: Eine Erfahrung mit Überirdischem
Lust auf Schweineohren im hohen Norden: Island – Land der Feen und des Lavasteins mit Flechten und Moos bedeckt. Hier offenbart sich dem Menschen der wahre Kern seiner Existenz und die Angst vor dem Unheimlichen. Eine Betrachtung
von WLADIMIR KAMINER
Ich wachte im Hotel „Weiße Möwe“ auf, wo ich ein Zimmer mit Blick aufs Meer hatte. Es war mein dritter Tag auf der Insel, der Himmel – grau wie gestern, ebenso grau wie das Wasser, die Erde und die Möwen, die am Ufer kreisten. Direkt vor meinem Fenster buddelten sich zwei Bulldozer in die Erde, die hart wie Granit war. Die Bulldozer hatten die Aufgabe, den Platz für ein Fundament freizumachen. Ein Wohnhaus sollte hier entstehen, direkt am Wasser – eine bevorzugte teure Wohngegend, erzählte mir mein isländischer Verleger Kristján Bjarki Jónasson. Die Bulldozer stanken und jaulten täglich ab halb sieben. Mein Buch „Militärmusik“ war gerade hier im Edda-Verlag erschienen. Es hieß nun auf Isländisch „Amüsante Aufzeichnungen eines DJs bei der sowjetischen Armee“ etwas umständlich zwar, aber doch treffend.
Wie lange werden sie brauchen, um ein Wohnhaus hier zu bauen, zehn, zwanzig Jahre?, grübelte ich. Die Bulldozer machten einen Höllenlärm, manchmal drehten sie sich auf der Stelle oder fuhren plötzlich rückwärts, als ob sie Anlauf nehmen wollten, mehrere Jogger fielen vor Schreck ins eiskalte Wasser des Atlantiks. Vor allem irritierte mich, dass die Kabinen der Bulldozer leer waren, sie wirkten wie ferngesteuert. Alle schweren Erdarbeiten werden auf Island von Elfen, den Ur-Einwohnern, erledigt, erklärte Kristján. Sie haben sich im Laufe der Jahre als zuverlässig und fleißig gezeigt.
Einen Nachteil gibt es allerdings, die Elfen sind unsichtbar und sprechen nie mit Angehörigen anderer Volksstämme, außer mit Japanern. Eine vergleichsweise kleine Macke für ein Volk, das auf eine tausendjährige Geschichte der Unterdrückung und der Sklaverei zurückblickt. Auch das Hotel „Weiße Möwe“ wurde anscheinend von Elfenpersonal bedient. In der Rezeption habe ich an drei Tagen nie jemanden gesehen, nur einmal stand dort ein Japaner und sprach mit der Wand. Die Betten wurden aber regelmäßig gemacht und jeden Morgen stand ein Frühstückstablett auf dem Boden vor der Tür, mit einem Brötchen, das wie Pappe schmeckte.
Tee kannten die Elfen nicht, Käse und Wurst waren wahrscheinlich unsichtbar, und der Zigarettenautomat des Hotels verzaubert – egal welchen Knopf man drückte, er spuckte immer nur eine Marke aus, vermutlich eine isländische. Eine hellgelbe weiche Schachtel, der Schriftzug war wie bei Camel, hieß aber „Goat“ mit einer Art Schaf auf der Packung, Die ganze Insel wirkte wie verzaubert – als hätte eine unvernünftige Hexe aus Rache oder aus Spaß ihrer zauberischen Willkür folgend hier ein fruchtiges grünes Land, so wie Frankreich, genommen und alles Schöne weggezaubert: Wälder und Felder, Tiere und Vögel, kleine Gärten mit Obstbäumen, sandigen Landstraßen, Mückentanz überm abendlichen Sumpf, Vogelgesänge bei Sonnenaufgang – alles weg, um den Menschen den wahren Kern ihrer Existenz zu offenbaren: Lavastein mit Flechten und Moos bedeckt.
Die Menschen erschraken und fingen an zu saufen. Die Zauberin wurde noch wütender und nahm den Menschen auf der Insel die Fähigkeit weg, Alkohol abzubauen. Die Isländer fallen nämlich nach einem Bier vom Hocker, aber sie trinken trotzdem, dem Zauber zum Trotz, auch wenn die Ausdauer fehlt.
Am ersten Tag meines Aufenthalts hier hatte ich eine Fischvergiftung. Ich dachte, Island – da muss ich Fisch essen, wie verrückt, und bestellte in einem kotzteuren Touristenrestaurant Zanderfilet auf „baskische Art mit isländischem Gemüse“. Auf jeden Fall füllte ich mich danach wie ein Isländer nach zwei Bier. Alles musste raus.
Der Elfen Frühstück am nächsten Tag ging ebenfalls in die Tüte. Eigentlich braucht man auf Island nicht zu essen, wenn man für nur drei Tage gekommen ist, dachte ich. Doch in der letzten Nacht träumte ich von Kuchen, einem ganz normalem Schweineohr aus Blätterteig. Ich sah ihn sogar vor mir, in einer Bäckerei auf der Nebenstraße, wo immer Männer mit großen Hüten davor sitzen, unter anderem der verrückt gewordene Schachweltmeister Bobby Fisher, ebenfalls mit einem Hut. Er war aus einem japanischen Gefängnis nach Island gekommen. Er hatte vor vielen Jahren gegen das von Amerika gegenüber Jugoslawien verhängte Handelsembargo verstoßen, indem er in Belgrad noch einmal gegen Boris Spasski Schach gespielt hatte. Dabei hatte er angeblich viel Geld gewonnen. Als die Amerikaner ihn vor ein Gericht stellen wollten, tauchte er erst in Jugoslawien unter und floh dann nach Japan, wo er eine Frau kennenlernte, die er heiratete. Als sein Visum abgelaufen war, kam er in den Knast. Ihm drohte die Auslieferung. Das uralte Schachland Island – angeblich sollen die Vorfahren der Isländer schon zu Zeiten der Edda-Sage Schach gespielt haben – rettete ihn, indem es Fisher politisches Asyl anbot.
Auf Island hat sich Bobby Fisher ein neues besseres Schachspiel ausgedacht, ein Spiel, das seinen Namen trägt – Fisher Random Chess, dabei wird kurzerhand die Aufstellung der Figuren verlost – um von den langweiligen Eröffnungsvarianten wegzukommen. Aber niemand will das auf Island mit ihm spielen, obwohl sich dort fast alle als „Fisherman’s Friend“ bezeichnen.
Ich sah Bobby Fisher jeden Tag vor der Bäckerei sitzen, dort, wo knusprige frische Schweineohren im Schaufenster ausgelegt waren. Ich hatte keine Ahnung wie Schweineohren auf Isländisch heißen. Und wie auf Englisch? Pigs ears?, überlegte ich auf dem Weg zu Bäckerei. Die Verkäuferin war zwei Meter groß, sie trug ihre Haare zu einem Läusehäuschen zusammengebunden, benutzte einen knallroten Lippenstift und sah auf eine besondere Art frech und herrschaftsvoll aus, als ob sie Premierminister wäre. Fast genau so hatte ich mir die Hexe vorgestellt, die ganz Island verzauberte. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Was ist, überlegte ich, wenn Sie tatsächlich eine Hexe ist und, sobald ich „Guten Tag“ sage und dass ich gerne ein paar Schweineohren hätte, sie mit den Fingern schnipst: „Bitte sehr, jetzt haben Sie welche für immer“? Ja, ja ich weiß, das ist alles Quatsch, aber trotzdem …
Auf dieser Insel fängt man leicht an, an alles Mögliche zu glauben. Ich verscheuchte die dummen Gedanken, ging in den Laden und sagte „Hi, ich hätte gern Schweineohren. Kann I take two Pigs ears?“ Dabei konnte ich nicht an mich halten und schaute kurz in den Spiegel. Alles war in Ordnung. Die Verkäuferin lächelte mich an, zog ihren Zauberstock aus dem Ärmel und berührte damit leicht meine Wange. „Mist!“, dachte ich und sprang mit einem Schritt nach draußen an die frische Luft. Die Männer vor dem Laden grinsten, sie nahmen ihre Hüte ab, alle hatten Schweineohren – auch Bobby Fisher. Na toll, Kaminer, sagte ich zu mir selbst. Gratuliere zu deiner isländischen Neuerscheinung. Jetzt hast du den Salat.