Die verprügelte Generation

TRAUMA Die Doku „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie …“ erzählt in bedrückenden Szenen, wie Kinder in den 50er und 60er Jahren Opfer ihrer eigenen Eltern wurden (23.30 Uhr, Das Erste)

VON SVEN SAKOWITZ

Mit solch einer Resonanz hatte niemand gerechnet: Als im April 2012 in der WDR-Sendung „frauTV“ über das gerade veröffentlichte Buch „Die geprügelte Generation“ von Ingrid Müller-Münch berichtet wurde, standen in der Redaktion die Telefone nicht mehr still. Einhelliger Tenor der Zuschauer: Wir haben das auch so erlebt, endlich wird über dieses Thema gesprochen! Die Journalistin beschäftigt sich in dem Buch mit der körperlichen Züchtigung von Kindern als Erziehungsinstrument; den Schwerpunkt legt sie auf die 1950er und 1960er Jahre in Westdeutschland. Schon früh war ihr an einer dokumentarischen Verfilmung des Stoffes gelegen. Sie wandte sich deshalb an die Dokufilmerin Erika Fehse, die jetzt nach knapp zweijähriger Recherche- und Produktionszeit den 45-Minüter „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie …“ (23.30 Uhr, Das Erste) vorlegt.

„Die Betroffenen, die im Buch zu Wort kommen, wollten mit Ausnahme des Schriftstellers Tilman Röhrig leider nicht vor die Kamera treten“, sagt Erika Fehse. Unterstützung bei der Suche nach Gesprächspartnern bekam sie von der „frauTV“-Redaktion, die einige der Zuschauer, die sich gemeldet hatten, kontaktierte. Weitere Gesprächspartner fand Fehse über Zeitungsanzeigen, im Bekanntenkreis sowie über die Website zum Buch, in dessen Forum zahlreiche Leser Kommentare hinterließen.

Viele dieser Betroffenen kommen in der Dokumentation zu Wort, im Fokus stehen drei Protagonisten. Helga G., Jahrgang 1940, litt unter ihrem Onkel, einem ehemaligen SS-Mann, den die Schläge auf ihren nackten Po sexuell erregten. Lutz Stiller, Jahrgang 1959, bekam von seiner überforderten Mutter regelmäßig Dresche mit dem Teppichklopfer. Tilman Röhrig, Jahrgang 1945, wurde von seinem Vater, einem Pfarrer, mit der Reitpeitsche geschlagen. Über seine Qualen schrieb Röhrig 1973 in seinem Jugendroman „Thoms Bericht“.

Fehse besuchte mit allen dreien die Orte, an denen ihnen Leid zugefügt wurde. „Diese Momente haben mir deutlich gemacht, welche Wirkungen ihre Kindheitserfahrungen hatten“, sagt sie. „Alle drei haben zwar Strategien für den Umgang mit ihren Traumata entwickelt und kommen sonst im Leben gut zurecht, aber an diesen Orten waren die Ereignisse sofort wieder präsent. Man wird das nicht los.“

Vor allem diese Szenen sind schmerzhaft, die Schilderungen der Misshandlungen schockierend. Dennoch ist es schade, dass Fehse, abgesehen von ein paar Hinweisen auf die juristische Seite des Problems, ausschließlich aus Betroffenensicht erzählt und auf Expertenstatements verzichtet. Professionelle Einschätzungen der unterschiedlichen Gründe für diese Form der Gewalt und die Spezifika der 1950er und 1960er Jahre sowie die Unterschiede in BRD und DDR wären interessant gewesen. Und leider liefert die Doku auch keinerlei statistische Unterfütterung. Das Thema besitzt eine gefühlte Relevanz, die über die Einzelschicksale hinausgeht, aber man möchte doch gern wissen, wie viele Menschen unter den Prügelorgien ihrer Eltern, Verwandten und Lehrer gelitten haben, auch wenn es dazu vermutlich nur Schätzungen gibt. Auch wäre ein kleiner Schlenker in die Gegenwart wünschenswert gewesen, denn das Thema ist ja längst nicht Geschichte.

Das weiß auch Erika Fehse: „Ich hoffe, dass der Film zu einer Sensibilisierung für das Thema beiträgt“, sagt sie. „Mein Grundgedanke bei der Konzeption war: Wenn man 40- bis 80-Jährige darüber reden hört, was ihnen in der Kindheit widerfahren ist, und wenn man spürt, wie schlecht es ihnen noch heute damit geht – dann spätestens sollte jedem klar sein, dass man Kinder nicht mit Schlägen erziehen darf.“