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Archiv-Artikel

Der Missbrauch beginnt früher

NÄHE Die Debatte über sexuellen Missbrauch ist grobschlächtig. Sie übersieht, dass es eine alltägliche Herausforderung ist, die Balance von Nähe und Distanz zwischen den Generationen zu bestimmen – und zu halten

Für mich beginnt der Missbrauch schon dann, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer dieses Paradox nicht leben kann

VON UTE ANDRESEN

Die Mädchen in Klasse 5/6 fragten schüchtern, ob ich sie nicht aufklären könnte. Das täte ja sonst keiner. Sexualerziehung gab es noch nicht, jedenfalls nicht bei uns auf dem Land. „Gut! Schreibt mir auf, was ihr wissen wollt. Dann kann ich mich vorbereiten. Aber mit Namen. Ich kann mich auch nicht verstecken.“

Ihre Fragezettel verrieten mir, wie gut sie schon Bescheid wussten, und unser Gespräch geriet weitaus lockerer, als ich befürchtet hatte. Aber plötzlich war es ganz still. „Niemand hat das Recht, dich auch nur anzufassen, wenn du das nicht willst.“ Das hatte ich gesagt. Entschieden – und nicht ahnend, wie wichtig dieser Satz den Mädchen war. Dass ich ihnen eine wirkliche Antwort gegeben hatte, spürte ich an einer Gänsehaut.

Immer wieder erinnere ich mich an diesen Moment, der begonnen hatte mit der Frage: „Ich mag das manchmal nicht, wenn ich einen Kuss kriege. Das ist doch nicht schlimm?“ Gemeint war ganz sicher kein sexueller Übergriff, nur ein Kuss in der Familie für ein Kind, das grad nicht mag, dass man nach ihm greift und unsicher ist, ob es sich entziehen darf. Unsicher womöglich, ob sein Gefühl und der Wunsch, so eine Annäherung abzuwehren, überhaupt normal ist. In der plötzlichen Stille mögen sich auch schlimmere Erlebnisse anderer Mädchen verborgen haben, aber davon weiß ich nichts.

Die jähe Gewissheit, diese Kinder als ihre Lehrerin ermutigt zu haben, sich selbst und dem eigenen Wunsch nach Distanz zu glauben, auch gegenüber ihren Angehörigen, hat mir eine meiner Aufgaben gezeigt: als Lehrerin mit dem, was ich sage, und mit meiner Person einzustehen für das Recht jeden Kindes, sich abzugrenzen gegen die Bedürfnisse der Erwachsenen, denen es sich zugehörig fühlt.

Trotzdem ist mir dann viele Jahre später dies unterlaufen: Mit meinen Zweitklässlern im Kreis, die Kinder auf dem Teppich, saß ich auf einem Bänkchen, auf dem links und rechts von mir auch noch ein Kind Platz hatte. Es gab ein Problem zu besprechen: Einige Buben hatten sich wieder einmal mit einem Spiel amüsiert, das sie „Kampfküssen“ nannten. Die Mädchen hatten sich darüber beschwert. Die Buben meinten, die Mädchen hätten zwar gekreischt und gezappelt, aber es hätte ihnen doch auch Spaß gemacht. Eindeutig war das aber nicht gewesen. „Darum muss man so etwas lassen! Wenn nicht klar ist, ob du jemanden küssen darfst, dann frag!“ Das war meine Lehre.

Dann wollte ich sie spielerisch anschaulich machen, wandte mich zu dem Kind an meiner linken Seite um und fragte: „Darf ich dir ein Bussi geben?“ – „Nein!“, war die schnöde Antwort. Ich wandte mich nach rechts: „Darf ich dich umarmen?“ – Wieder: „Nein!“ Auch dieses Kind wies mich ab – und auf einmal war das Ganze kein Spiel mehr für mich. Ich war gekränkt, enttäuscht, verwirrt. Und für eine ganze Weile gefangen in meiner eigenen Sehnsucht nach liebevoller Nähe. Zum Glück wussten die Kinder, was sie als Nächstes zu arbeiten hatten, ließen mich allein da sitzen, und ich hatte Zeit, die so unerwartet schmerzliche Episode beiseitezuschieben.

Ein Nachspiel am nächsten Tag hat mich getröstet, aber auch wieder verwirrt. Da saß, als ich in den Kreis kam, eins der Kinder, die mir „Nein!“ gesagt hatten, ein Junge, auf meinem Bänkchen bereit, lächelte mich an und sagte großzügig: „Du darfst mich umarmen!“ Ich hab es getan, sehr zurückhaltend, nicht so herzlich, wie ich es auch hätte tun mögen. Mir war bewusst: Dieses Kind hat gespürt, dass mir sein „Nein!“ wehgetan hat. Und obwohl ich damit aus der Rolle gefallen bin, will es das Spiel jetzt anders gut beenden.

Das hat mich gerührt. Es rührt mich immer noch. Aber ich spüre auch immer noch, dass diese ganze Geschichte so einfach nicht aufgeht, wie ich sie hier erzählt habe. Alles Nachdenken darüber endet in einem Paradox:

Als Lehrerin muss ich empfänglich sein für die Gefühle und Sehnsüchte, die die Kinder mir entgegenbringen. Ich muss mich in sie einfühlen und ihnen nahe sein, wenn sie jemanden brauchen, der ihren Kummer oder ihre Freude mit ihnen teilt.

Aber ich darf mich nicht in gleicher Weise an sie wenden. Ich darf sie nicht brauchen. Und ich darf sie nicht festhalten, nicht mit Händen und nicht mit meinen Gefühlen. Ich muss den Abstand zwischen uns hüten, auch wenn wir einander vertraut sind, denn ich bin die Erwachsene. Meine eigene Bedürftigkeit hat da nichts zu suchen, wo ein Kind in der Schule sich bei mir anlehnt.

Für mich beginnt der Missbrauch schon dann, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer dieses Paradox nicht leben kann. Wer gegenüber zärtlichen Angeboten von Kindern schwach wird oder sich gegen das Bedürfnis der Kinder nach Anteilnahme und Nähe versperrt und versteift, so dass sie unpersönlicher Kälte begegnen, wo sie einen großzügig warmherzigen Menschen erwarten, sollte nicht ihr Lehrer oder ihre Lehrerin sein.