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Archiv-Artikel

Sprachlos im Archiv

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Ernst von Weizsäcker und die erschreckende Kontinuität im Auswärtigen Amt

Kerstin Decker

■ ist freie Autorin und lebt in Berlin. Zusammen mit Gunnar Decker schrieb sie das Buch „Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben. Eine Deutschstunde“ (erschienen 2009 im Dietz Verlag).

Da ist einer gerade neunzig Jahre alt geworden und hätte sich das alles wohl ein wenig anders vorgestellt. Zumal allein die Erwähnung seines Namens einen ganzen, mittelschwer in Verruf geratenen Berufsstand bis heute ehrt: Richard von Weizsäcker, früherer Bundespräsident. Ecce homo politicus!

Weizsäckers Familienname steht – oder stand? – trotz der Verurteilung Ernst von Weizsäckers 1949 für eine Kontinuität deutscher Politik im guten Sinn. Der Vater war bis 1945 Staatssekretär im Auswärtigen Amt und nicht nur nach Auskunft seines Sohns maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des Münchner Abkommens von 1938, diesem letzten Aufschub des Kriegs.

Hatte Adorno etwa doch recht?

Adornos Verdacht, dass es kein richtiges Leben gäbe im falschen, schien mir schon immer von zu großer, beinahe selbstgefälliger Unbarmherzigkeit. Alle Hoffnung im Reich der menschlich, allzu menschlichen Dinge knüpft sich schließlich daran, dass ein solches Leben doch möglich sein kann, wenn auch nur augenblickweise. Und nun ist da dieses neue Buch und sagt auf vielen hundert Seiten: Nein!

Die Großstudie heißt: „Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“. Das Ergebnis: Das Auswärtige Amt war systematisch beteiligt an der Ermordung der europäischen Juden. Der Name Ernst von Weizsäckers fällt oft. Er, Repräsentant des Bürgers, habe den Anstoß zur Ausbürgerung des noch viel repräsentativeren Bürgers Thomas Mann gegeben. Und er habe Sätze gesagt wie: Die Juden müssten Deutschland verlassen, „sonst gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen“. So hatte es der Schweizer Gesandte in Paris notiert.

Man liest das alles mit großer – hermeneutischer – Verunsicherung. Was war das? Warnung, Drohung, zustimmende Drohung gar? Das „eben“ stört. Es klingt böse, fast wie Einverständnis. Aber es stammt „eben“ nur aus der Erinnerung des Schweizer Gesandten. Und trotzdem werden wir, die wir es einmal gelesen haben, so schnell nicht mehr vergessen. So entstehen Wirklichkeiten, Halbwirklichkeiten, Viertelwirklichkeiten. Nietzsche hat den Typus des Gelehrten, des Fachwissenschaftlers, als eines der feineren Ergebnisse europäischer Demokratisierung beschrieben, seine ruhige Selbstgewissheit inklusive. Der Historiker ernennt zur Realität, was er schwarz auf weiß geschrieben findet. Aber ist das dem – sagen wir – „Diskursraum“ einer Diktatur angemessen?

Die Kunst der Diplomatie

Ein Vorwurf lautet, im Auswärtigen Amt sei nie über das Vorgehen gegen die Juden debattiert worden, nur darüber, wie es auf das Ausland wirken könnte. Ja, aber wer debattiert in einer Diktatur, und gar in dieser, öffentlich? Abgesehen davon, dass es noch nie zum Berufsbild eines Diplomaten gehörte, mit eigenen Meinungen aufzutreten. Amt des Diplomaten ist, die Meinung des ihn entsendenden Staats möglichst erfolgreich zu vermitteln. Und wenn er aber darüber hinaus noch mehr vermitteln vermag, vielleicht sogar eigene Absichten, ist er ein besonders guter Diplomat.

Mag sein, in Demokratien genügt die Geradeheraussprache. In jeder Diktatur gibt es grundsätzlich viele Sprachen, die mit dem Wort Sklavensprache ganz falsch bezeichnet sind. Es handelt sich vielmehr um Selbstermächtigungssprachen. Hier müsste eine ganz andere Art Sprachforschung beginnen, ja eine Sprachklima- und Umgebungsforschung, um aus überlieferten Sätzen von Einzelnen ein Urteil über Einzelne und deren Absichten zu fällen. Mit dem Urteil über das Ganze steht es gleichwohl anders.

Und da ist das Erschreckende in der Tat, wie sich im Umkreis des Auswärtigen Amts bis in unser Jahrzehnt eine Tradition fortsetzte, die die Zeit des Nationalsozialismus nicht als Bruch im Eigenen begreift. Ohne den spezifischen Sinn von Diplomaten für Zeremonien und Würdigungen würden vielleicht noch heute ehrende Nachrufe auf NS-Mörder geschrieben. Einer dieser Nachrufe war es – er galt dem Exgeneralstaatsanwalt Nüßlein –, der eine alte Dame, die einst selbst in Gestapohaft saß, so in Aufruhr versetzte, dass sie dem damaligen Außenminister Fischer einen Empörungsbrief schrieb, der ihn natürlich erst nach mehreren Versuchen erreichte.

Die Wut der Emigranten

Die alten Antifaschisten in der DDR sahen Westdeutschland immer als Hort der unbelehrbaren Nationalsozialisten an

Bertolt Brecht zufolge gibt es die im Licht und die im Schatten, und Letztere sieht man nicht. Brecht dachte an Menschen. Aber heißt Demokratie nicht, dass alle gleichmäßig beleuchtet sind? Dass die ganze Wirklichkeit gleichmäßig beleuchtet ist? Doch schon im Falle der Menschen ist das eine Illusion. Wir erleben in Stuttgart gerade einen exemplarischen Fall von Selbstbeleuchtung: Tausende tendenziell Unsichtbare treten aus dem Schatten. Es gilt aber auch für die Wirklichkeit als solche. Wirklichkeit, so dürfen wir vermuten, ist der Bereich der gut ausgeleuchteten Dinge, und das sind niemals alle und schon gar nicht gleichzeitig.

Das weiß natürlich auch das Archiv des Auswärtigen Amts. Es gibt bis heute nichts heraus, was nicht ausdrücklich angefordert wurde. Man kann also nicht suchen, sondern muss wissen, was man sucht. Ein Spezialfall von Archivnutzung. Besonders gut ausgeleuchtet sind dagegen die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit: Sie vor allem sind übriggeblieben von der DDR, weshalb – es ließ sich aus einschlägigem Anlass soeben exemplarisch beobachten – beide dem öffentlichen Bewusstsein zunehmend deckungsgleich werden.

Die alten Antifaschisten in der DDR haben Westdeutschland immer als Hort der Unverbesserlichen, der ewigen Nationalsozialisten beschrieben. Irgendwann hat sie keiner mehr ernst genommen. Irgendwann haben wir begonnen, über sie zu lachen, auch, weil sich keine Gegenwart allein aus der Vergangenheit erklärt. Vielleicht muss man dieses Urteil nachträglich relativieren angesichts des hier wieder geführten Nachweises, wie unmöglich es für Emigranten und Antifaschisten war, in der alten Bundesrepublik Fuß zu fassen. Etwa im Auswärtigen Amt. Man nannte sie dort auch anders: Vaterlandsverräter.