Die Wiederentdeckung der Großstadt

Vor 75 Jahren erschien Erich Kästners Großstadtsatire „Fabian. Geschichte eines Moralisten“. Damals war die Empörung über den „pessimistischen, pornografischen“ Roman groß. Beim erneuten Lesen wird deutlich: Das Buch ist heute wieder aktuell

Es gibt sie immer noch, die Anwaltsvillen in Grunewald und die überfüllten Arbeitsämter in Mitte

Von Nina Apin

Das Buch hat alles, was es für einen handfesten Skandal braucht: minderjährige Prostituierte und lesbische Zuhälterinnen, gewaltbereite politische Extremisten und verhungernde Arbeitslose, verlogene Journalisten und korrupte Anwälte. Dieses verkommene Personal bevölkert die Häuserschluchten und Amüsiertempel einer explodierenden Großstadt, die sich ganz der Vergnügungssucht verschrieben hat und alle mit in den Abgrund reißt: Berlin im Jahr 1931.

In Erich Kästners Satire „Fabian“ ist die Stadt ein entfesseltes Sündenbabel, ein moralischer Sumpf, in dem früher oder später jeder untergehen muss: „Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.“

„Fabian“ sorgte nach seinem Erscheinen im Oktober 1931 für allgemeine Empörung. „Zersetzend“ sei der Roman, tobte die rechte Presse, „pornografisch“ und „pessimistisch“ die Bewertung des Bürgertums. Ursprünglich hatte der Autor sein Werk „Der Gang vor die Hunde“ nennen wollen, doch das ließ der Verlag nicht zu. Der neue Titelzusatz „Die Geschichte eines Moralisten“ war aber nicht minder provokant. Die detailliert ausgemalten urbanen Perversionen verstörten Kästners Zeitgenossen, schließlich stammten sie aus der Feder eines Autors, der für schöne Kinderbücher wie „Emil und die Detektive“ bekannt war. Das eigentlich Skandalöse an den Abenteuern des Titelhelden Fabian war aber, dass seine Erfahrungen gesellschaftliche Realität widerspiegelten. Die Swingerclubs, Kuriositätenkabinette und Redaktionsstuben, in denen sich Kästners arbeitsloser Germanist herumtreibt, gab es tatsächlich.

Jakob Fabian läuft durch Berlin und beschreibt, was er sieht: den Niedergang der Weimarer Republik und ihrer politischen Ideale, Massenarbeitslosigkeit, soziales Elend und ungezügelte Vergnügungssucht: „Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert und die Sterne am Himmel konnten sich schämen.“

75 Jahre später ist „Fabian“ immer noch verblüffend aktuell. Denn eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert. Neonreklame, Untergrundbahn und Straßenstrich gehören zwar heute auch anderswo zum Stadtbild. Aber das Überdrehte und zugleich Proletarische Berlins, die engen Hinterhofkasernen, die großzügigen Anwaltsvillen in Grunewald und die überfüllten Arbeitsämter in Mitte, die gibt es immer noch. Fabian wird am Bordstein von einer Prostituierten angesprochen, wird fast von einer Tram angefahren, nimmt die U-Bahn und säuft mit befreundeten Journalisten. Eigentlich ein ganz normaler Tag. Das Tempo, in dem Kästner seinen Protagonisten kreuz und quer durch die Stadt jagt, erinnert an die rasant geschnittenen Filmsequenzen von „Lola rennt“: „Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er in die Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der Spichernstraße aus der Unterwelt wieder herauf unter den freien Himmel.“

Ein Typ wie Fabian würde heute vielleicht nicht mehr in der Wilmersdorfer Schaperstraße wohnen, sondern eher in Friedrichshain. Doch man könnte ihn auch heute noch in der U-Bahn treffen: 32 Jahre alt, Germanist mit wechselnden Berufen, erst Reklametexter für eine Zigarettenfirma, dann arbeitslos. Eine prekäre Existenz, ein Ironiker ohne Ehrgeiz, feste Freundin oder politische Überzeugungen. Eigentlich ein ganz normaler Berliner Thirtysomething. Wie sein Freund Labude. Der promoviert seit Jahren in Literaturwissenschaft und lebt von seinen reichen Eltern, hegt aber sozialpolitische Ambitionen. „Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme“, sagt Labude. „Ein Glück ist das“, erwidert Fabian. „ Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig.“ Fabian würde heute zu den Nichtwählern zählen, Labude vermutlich der WASG angehören.

Die Odyssee des arbeitslos gewordenen Fabian durch die Ämter liest sich wie eine Satire auf die heutige Situation in den Jobcentern: „Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Platz sei und sich an eine westliche Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war.“ Die richtige Filiale ist voller Wissenschaftler, Künstler und Freiberufler, die alle keinen Job finden. Die „Krisenunterstützung“ reicht kaum zum Leben, für neue Winterstiefel muss ein gesonderter Antrag bewilligt werden. Eine gespenstisch aktuelle Szenerie.

Auch die moralisch korrupten Journalisten, mit denen Fabian nach Redaktionsschluss saufen geht, sind nicht ausgestorben. Frei erfundene Katastrophenmeldungen, der Zynismus der Redakteure und ihre Vorliebe für populistische Schlagzeilen zeigen deutliche Parallelen zur heutigen Boulevardpresse auf. „Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit“ – nach dieser Maxime arbeiten auch die Nachfahren von Handelsredakteur Münzer und seinen Kollegen.

Nach dem Selbstmord seines Freundes und dem Verlust der Geliebten flieht Fabian zu den Eltern aufs Land. Dort hofft er, die moralisch intakte Lebenswelt seiner Kindheit wiederzufinden, um sich daran aufzurichten. Ein sehnsuchtsvoller Blick zurück auf eine Provinzjugend, den auch heutige Berliner Mittdreißiger wie Florian Illies kultivieren. Aber Fabian gelingt es nicht, in der Provinz Erlösung zu finden: Nach all den Jahren in der Großstadt geht er an der Enge zugrunde.

Ist Berlin heute also wie damals ein brutales Pflaster, ein Refugium für gescheiterte Existenzen und Spinner? Nicht ganz. Schießereien zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten mitten in der Stadt gehören nicht mehr zum Alltag. Auch wenn in den rechtsextremen Angriffen auf Ausländer und linke Parteimitglieder im Wahlkampf ein Echo der politisch motivierten Gewalt jener Tage nachhallt.

Die „Topografie der Unmoral“, wie Kästner ein Kapitel überschreibt, sieht heute etwas anders aus – weil sich die Definition der Moral gewaltig geändert hat. Ein Kuriositätenkabinett, in dem Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung zur Belustigung des Publikums auftreten, ist heute nicht mehr denkbar. Ein „Lokal, wo parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekannt geben“, würde man heute eine Schwulenbar nennen. Davon gibt es viele in der Stadt, und sie sind ganz normal geworden. Ebenso Lesbenbars wie die „Kusine“, in der 1931 Frauen mit Zylindern miteinander tanzten und Zigarren rauchten. Statt im Atelier einer lesbischen Bildhauerin nach erotisch abenteuerlustigen Frauen zu suchen, würden die beiden Freunde heute wohl in den Kit-Kat-Club gehen.

Kästners „Fabian“ kann man sich an allen Orten der Stadt vorstellen, er würde gut in die Kneipen und Straßencafés von Mitte und Prenzlauer Berg passen. In einem Club wie dem Friedrichshainer „Berghain“ würde aber sogar er mit den Ohren schlackern: Dort haben Lederschwule und Heteropärchen neben der Tanzfläche Sex, öffentlich und legal, und niemand stört sich daran. Das wäre sogar für einen gestanden Nihilisten der frühen Dreißiger zu wild.