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Archiv-Artikel

Für jetzt und immer unten

Wer ist eigentlich die „Unterschicht“, die jetzt auch die Politik entdeckt? Über die Karriere eines soziologischen Begriffs, der die Benachteiligten dieser Gesellschaft nur stärker deklassiert

VON ROBERT MISIK

Soziale Verwahrlosung, Zukunftslosigkeit, Kinderarmut – dagegen will jetzt auch die Regierung etwas tun. Ob Kurt Beck von der SPD, ob Volker Kauder von der CDU, jetzt will sich die Politik also der Unterschicht annehmen. Aber was ist das für eine Karriere, die diese Vokabel gemacht hat? Hat es früher keine Unterschicht gegeben, oder hat man sie nur anders genannt: Proletariat vor Urzeiten, Unterprivilegierte in der Ära politisch korrekter Sozialreformen?

Was die Unterschicht semantisch von „Proletariat“ und „Unterprivilegierten“ unterscheidet, ist die Zukunftsperspektive. Die Begriffe „Proletariat“ und „Unterprivilegierte“ waren eingebettet in Aufstiegs- und Emanzipationsdiskurse. Sie hatten nicht den Beiklang der Aussichtslosigkeit, sondern im Gegenteil der Idee, dass man sich aus der bedrängten Lage befreien kann. Durch kollektive Anstrengung (Revolution oder Reform) oder durch individuelle („lerne, Bub, damit was aus dir wird“). In Österreich verdichtet sich dieses Narrativ gerade, vielleicht ein letztes Mal noch: am Freitag starb der alte Bauarbeiter Oswald Gusenbauer – zwei Tage nachdem sein Sohn Alfred den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt.

Unterklasse ohne Aufgabe

Unterklasse meint jene, die auch nur rudimentär eine damit vergleichbare Zukunftsperspektive nicht mehr haben. Das alte Proletariat und die alten Unterprivilegierten hatten ja, bei all ihrer Bedrängnis, immerhin eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft. Das Kapital brauchte sie. Sie hielten die Fabriken am laufen. Sie waren vielleicht ausgebeutet, aber sie waren notwendig. Das gab ihnen Macht und auch Stolz. Die Unterklassen braucht keiner mehr. Für die Kreativjobs der Wissensgesellschaft fehlen ihnen die sozialen, symbolischen und meist auch sprachlichen Kompetenzen, und Handjobs werden in Kalkutta und Schanghai erledigt. Sie sind, nach einem Wort des französischen Soziologen Robert Castel, „überflüssige Menschen“.

Der historische Begriff, der der „Unterklasse“ am nächsten kommt, ist „Lumpenproletarier“ – aber von denen nahm man an, dass sie mit dem gesellschaftlichen Fortschritt weniger würden und außerdem im Grunde, dass sie in aller Regel selbst an ihrer Lage schuld sind. Sie waren nur ein Sicherheitsproblem, als gesellschaftliches Problem wurden sie nicht gesehen. Unterschicht heute meint dagegen ein gesellschaftliches Segment, dessen Angehörigen alle Aufstiegskanäle von vornherein verschlossen sind; die nirgendwo auch nur eine Pore finden, in die Gesellschaft hineinzukommen; die von früh ab die Erfahrung machen, dass sie keine Chance haben – weil sie der falschen Ethnie angehören, am falschen Ort leben, in die falschen Schulen gehen; die deshalb auch selbst sehr auf „Anti“ machen, zum Trotz, und weil sie (zu) wissen (glauben), dass es ohnehin keinen Unterschied macht, ob sie sich anstrengen oder nicht.

Kind des Utopieverlusts

Die Unterschicht ist, wenn man so will, ein Kind des Utopieverlusts und der verlorenen Fortschrittsfröhlichkeit. Früher hieß es: „Es gibt Probleme, aber sie werden gelöst werden. Und du kannst es schaffen.“ Heute ist das anders. Heute wird manches besser. Vieles wird anders. Und genügend wird schlimmer. Zu Letzterem zählt: Wer unten ist, der kommt da nicht mehr raus.

An diesem Sachverhalt, an der Analyse selbst also, gibt es wenig zu deuteln. Unterschiedlich sind freilich die Strategien, damit umzugehen. Deshalb gibt es, grob gesagt, zwei unterschiedliche Weisen, von den Unterschichten zu sprechen. Die eine ist die Distinktionsstrategie: Plötzlich kann man „Unterschicht“ sagen und macht sich nicht notwendig als Schnösel unbeliebt – die Vokabel „Unterschicht“ ist dann für den Bobo das, was für die Wilmersdorfer Regimenter einst das verächtliche „Pöbel“ war. Man fühlt sich gut, weil man 3sat und Arte schaut, während der schlechte Rest „Unterschichtenfernsehen“ guckt und bei Lidl einkauft. Die andere Strategie ist, „Unterschicht“ zu sagen, um auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam zu machen.

Die Frage ist freilich, ob es damit getan ist, dass die Politik sich den Deklassierten auf sozialarbeiterische Weise nähert. Deren Deklassierung besteht ja gerade auch darin, dass sie nur als Objekte der Sozialarbeit in den Aufmerksamkeitsbereich der Politik kommen.

Ein Teil des Problems ist, dass die Unterschicht sich nicht öffentlich artikulieren kann (außer durch NPD-Wählen und Hooliganismus). Worauf es wirklich ankäme, ist, sie politisch zu repräsentieren.