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Archiv-Artikel

Das Rebellenkind

Jemand hat Boris Palmer mal erklärt, es sei schwer, sich einen Namen zu machen … … und noch schwerer, sich einen Vornamen zu machen. Palmer arbeitet daran

AUS GERADSTETTENGEORG LÖWISCH

Boris Palmer weigerte sich. Er mochte nicht mitkommen am nächsten Tag. Der Vater wollte sie alle dabei haben, ihn, seinen kleinen Bruder, seine Mutter. Vor dem Gericht, wo ihm wieder ein Beleidigungsprozess bevorstand, musste er der Welt zeigen, dass die Familie zu ihm hält im Kampf gegen die Obrigkeit. Aber Boris Palmer wollte nicht. Er wollte lieber in die Schule und sein Bruder auch. Der Vater am Kopfende des Esstischs wurde wütend. Sogar die Mutter gab den Buben Recht. Der Vater fuhr hoch. „Dann isch jetzt alles aus!“ Er griff sich die Glasbowle mit den eingemachten Erdbeeren und warf sie auf den Tisch, dass es krachte.

Boris Palmer sitzt auf der rechten Seite neben dem Kopfende. Sein Vater Helmut Palmer ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Die Geschichte mit der Bowle ist die erste, die der Sohn zu Hause in Geradstetten erzählt. Die Kratzer und Kerben im hellen Eichenholz des Tisches sind noch zu sehen. Seine Mutter steht im Zimmer. Sie haben beide keinen anklagenden Ton in der Stimme, aber es hört sich auch nicht an, als gäben sie eine schwäbische Anekdote zum Besten. Obwohl, wenn Erika Palmer ihren Mann beschreibt, sagt sie „der Helmut Palmer“ und das klingt schon, als habe sie ihn gern ein wenig aufgezogen. Der Sohn sagt: „Mein Vater“. Es klingt sachlich, abgeklärt und dabei trotzdem stolz.

Boris Palmer befindet sich im Wahlkampf. In Geradstetten, dem viertausend Einwohner großen Ort, in dem er aufgewachsen ist, macht er über Mittag Station. Vorher hat er in Tübingen, wo er am 22. Oktober Oberbürgermeister werden will, ein Arbeitslosenfrühstück besucht und nachher muss er zu einem Fototermin nach Stuttgart, wo er im Landtag sitzt. Mit 34 ist er dort der Jüngste bei den Grünen, aber seit er im März in seinem Wahlkreis ein Rekordergebnis bekam, haben sie ihn zum stellvertretenden Fraktionschef gewählt. Er ist fast so bekannt wie sein Vater. Ein Landrat hat Boris Palmer einmal erklärt, es sei schwer, sich einen Namen zu machen. Und noch schwerer, sich einen Vornamen zu machen. Er arbeitet daran.

Helmut Palmer hatte sogar einen Ehrentitel: Der Rebell vom Remstal. Zu Hause war der Rebell allerdings ein Gebieter. Er hat das Leben der Familie beherrscht. Man kommt nicht darum herum, von ihm zu erzählen, wenn man über Boris Palmer erzählen will.

Helmut Palmer war ein Junge, der gehänselt und verhauen wurde. Ein uneheliches Kind, der Vater Jude. Es tat weh, wenn die anderen Kinder ihn Moses riefen, und er war glücklich, als er in der Hitler-Jugend mitmachen durfte. „Helmut, wenn du mal Kinder bekommst“, hat seine Großmutter gesagt, „dann sind es nur noch Vierteljuden, und wenn die wieder Kinder bekommen, sind es Achteljuden – und dann ist es draußen.“

Noch Mitte der 80er-Jahre haben ältere Jungs Boris Palmer im Freibad nachgerufen, dass sein Vater ja nur vergessen worden sei beim Vergasen.

Nach dem Krieg versuchte Helmut Palmer, die schwäbischen Obstbauern von einer Methode des Baumschnitts zu überzeugen, die er in der Schweiz gelernt hatte. Viele ließen sich nicht missionieren und er geriet in Rage. Vom Baumprediger wurde er zum Bürgerrechtler. Bei Wahlen trat er als Unabhängiger an, er brannte für die Demokratie. Er bekämpfte unnütze Verkehrsschilder, die Atomkraft und den Antisemitismus. Politiker und Beamte schimpfte er Tagediebe, Nazidackel oder Nazis im CDU-Gewand. Manchmal wurde er handgreiflich. Insgesamt verbrachte er wegen Beleidigung, Körperverletzung und anderer Delikte zwei Jahre seines Lebens im Gefängnis. Das Volk feierte ihn.

Erika Palmer, schwäbischer Dialekt, freundliche blaue Augen, bringt ein Brett mit Broten und einen Teller Trauben. Dazu gibt es neuen, süßen Traubensaft. Die Gläser sind schon wieder leer. „Da funktioniert morge der Stuhlgang gut“, sagt sie zufrieden. Boris Palmer schmatzt ein wenig. Er lobt das Essen direkt vom Bauern. Vor ein paar Jahren hat er Tübinger Supermärkte überredet, Milch aus dem Umland ins Sortiment zu nehmen. Als Student hat er bei Partys Freunde zur Rede gestellt, die mit dem Wagen statt mit Rad oder Bus kamen. Fährt keiner mehr? Dann setzt er eben einen Nachtbus durch.

Sie haben viel Zeit verbracht, Vater und Sohn. Der Kandidat trug ihn als Zweijährigen auf den Schultern durch die Wahlkämpfe. Im Sommer fuhren sie zusammen in der Früh auf die Wochenmärkte und im Winter zum Baumschneiden. Er schämte sich, wenn er sich bei den Gefängnisbesuchen zur Durchsuchung ausziehen musste, und war stolz, wenn er für Auftritte des Vaters fünf Mark Eintritt kassieren durfte und der Saal tobte. Mit 34 hat Boris Palmer drei Jahrzehnte Politikerfahrung.

Es gibt ein Foto von 1983, auf dem Helmut Palmer auf einem Marktplatz den Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel trifft. Im Vordergrund klatscht der SPD- Abgeordnete Hermann Scheer, ein Freund von Palmer. Der Rebell reicht dem Kanzlerkandidaten die Rechte, die Linke liegt auf der Schulter des Kindes. Boris trägt eine Pudelmütze, er ist elf. Er beobachtet Vogel. „Er hat früh begonnen, Verhaltensweisen einzuschätzen“, sagt Hermann Scheer. „Natürlich ist er eine überdurchschnittliche Begabung. Auch weil er so viel gesehen hat.“ „Ohne diesen Vater wäre er in dem Alter noch nicht so weit“, sagt der Tübinger Professor Ulrich Felgner, bei dem Palmer Mathematik studiert hat. „Er analysiert genau.“

Von Helmut Palmer war Anerkennung schwer zu kriegen. Rebellen loben nicht. Sie triumphieren. Als Boris Palmer das Abi als Jahrgangsbester bestand, faxte der Vater das 1,0-Zeugnis an die Zeitungsredaktionen. Der Sohn erfuhr es durch Zufall.

Eine von Helmut Palmers Töchtern sagte sich mit 19 von ihm los. Wegen seiner gebrochenen Versprechen, wegen seiner Selbstherrlichkeit. Sie änderte ihren Namen. Boris Palmer hat versucht, den Mann auszuhalten. Er hat den fantasievollen Kämpfer geliebt und den rücksichtslosen Egomanen weggesteckt. Er hat sich überlegt, was er genauso machen will und wie er niemals werden darf. Irgendwann Anfang zwanzig ging es nicht mehr. Er hat den Kontakt für zwei Jahre auf ein Minimum reduziert. Aber er hat gewusst, dass man seinen Vater nicht loswird. An seinem Sterbebett traf er einen Unbekannten, seinen fünf Jahre jüngeren Halbbruder. Er sah den Vater, er sah sich, die Ähnlichkeit im Auftreten.

Erika Palmer stellt Himbeeren auf den Tisch. Sie würde den Nachtisch bei Wirbelstürmen und Vulkanausbrüchen mit derselben Gemütsruhe auftragen. „Der Helmut Palmer“, sagt sie „hat ja nach Meinung vieler Bürger – au hoch stehender – Recht g’habt. Verstehen Sie? Aber es nur falsch ausg’führt.“ Sie lächelt eine Spur amüsiert. „Der Boris hat nun den Vorteil, dass er’s richtig macht. Er macht’s zwar wie der Vater, aber er macht’s richtig.“

Manchmal vermittelt er wirklich diesen Eindruck: Als lebe er das Leben des Alten noch mal nach, abzüglich der Fehler. Ein Weltverbesserer wird verbessert.

Er stilisiert sich nicht zum Einzelkämpfer. Er ist während des Studiums zu den Grünen gegangen und dort Realo geworden. Er kann über Traditionsbataillone der CDU herziehen, aber er wirbt für schwarz-grüne Bündnisse, weil er nicht will, dass die Grünen im Land ewig für den Papierkorb arbeiten. Im Tübinger Wahlkampf ist Manfred Rommel, der frühere Stuttgarter CDU-Oberbürgermeister, für ihn aufgetreten, der Finanzbürgermeister der Landeshauptstadt, ebenfalls ein CDU-Mann, kam auch.

Boris Palmer pariert schnell, er kann frech werden und bissig. Aber er kontrolliert sich. Er will, dass die Tübinger ihn sich am Kopfende einer Ratsversammlung vorstellen können. Die Chance ist da. Der CDU-Kandidat hat zurückgezogen, den altkonservativen Wählern bleibt nur noch ein Reutlinger Kripochef, der die Augenbrauen wissend hochziehen kann wie Inspektor Clouseau und dann versichert, er vertrete lediglich eine Einzelmeinung. Die Amtsinhaberin von der SPD heißt Brigitte Russ-Scherer. Sie füllt Podiumsdiskussionen mit den Mühen ihrer acht Amtsjahre. Unwillige Investoren, knappe Kassen, unumgehbare Vorschriften. „Die Welt isch halt ä bissel komplizierter“, sagt sie und schaut, als habe sie versalzene Kässpätzle gegessen. Helmut Palmer hätte sie verrissen, aber Boris Palmer dosiert seine Attacken. Ab und zu lobt er sie.

40 Minuten nach dem Besuch zu Hause posiert er auf einem Flur des Stuttgarter Landtags. Ein Fotograf knipst ihn für eine Broschüre. Standbein, Spielbein, locker im Blitzlicht. Im Hintergrund steht sein Mitarbeiter Ulrich Narr und berichtet das Neueste aus den Tübinger Ratsfraktionen. „Bisschen Zähne zeigen“, sagt der Fotograf. „Stern.de hat ein Streitgespräch mit dir und Oettinger angefragt“, sagt Narr. Es wirkt, als spielten die drei Jungs eine Szene aus dem Weißen Haus nach. „Super“, lobt der Fotomann. Die S-Bahn! Palmer rafft Anorak und Rucksack zusammen und einen Korb Trauben von der Mutter.

Er sagt, je näher der Wahltag rückt, umso mehr Glückshormone werden frei. Er mag das. Er kann nicht einfach in den Tag hinein leben. Im Urlaub fährt er auf dem Rad Alpenpässe hoch. Jetzt kommt er oft nach zehn heim. Er muss aufpassen, dass er den Fehler seines Vaters nicht wiederholt und der Politik alles unterordnet. Seine Freundin hat ihm das auch schon gesagt. Sie will sich und ihre Tochter aus dem Wahlkampf raushalten. Deshalb fehlt auf Palmers Internetseite eine Bildergalerie mit Familienidyll wie sie Politiker lieben.

Boris Palmer schafft die Bahn. Er braucht noch die Adresse für den nächsten Termin in Tübingen. Stadtteilspaziergang in Lustnau. Aber wo genau? Er ruft in Stuttgart an. „Ulrich“, zischt er ins Handy, „in meinem Terminkalender stehen zurzeit häufig unpräzise Angaben.“ Die Linien unter den Wangen sind jetzt schärfer.

Es ist seine vierte Wahl. In Stuttgart hat er vor zwei Jahren als OB-Kandidat 21,5 Prozent geholt, durch seine Empfehlung für den CDU-Mann in der Stichwahl war er der Königsmacher. 2001 und 2006 gewann er seine Landtagsmandate. Sein Vater kandidierte über 200-mal. Er hat nie einen Parlamentssitz bekommen und nie ein Amt. Sein größter Sieg war eine Niederlage. Bei der OB-Wahl 1974 in Schwäbisch Hall schaffte er 41,4 Prozent, allein gegen alle Parteien. Der Triumph von Hall.

In der S-Bahn wird ein Platz frei. Boris Palmer setzt sich. „Weil sie vorhin gefragt haben, ob ich einen Sieg meinem Vater widmen würde: So pathetisch bin ich nicht. Aber wenn’s nicht reicht, will ich wenigstens die 41 Prozent von Hall einholen. Dann sag ich: Schau Vater, das hab ich jetzt au g’schafft.“

Er lacht in sich hinein. Ein Erika-Palmer-Lächeln.