: Die Großstadtneurotiker
Guter Sex heilt alle Wunden. Doch zugleich glaubt niemand mehr an die naiven Sexutopien der 60er-Jahre: Davon erzählt der zum Teil recht explizite Ensemblefilm „Shortbus“ von John Cameron Mitchell
von SVEN VON REDEN
Eine nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit, als Nacktheit noch als progressiv galt, durchzog die Dokumentation „Inside Deep Throat“, die letztes Jahr in deutschen Kinos zu sehen war. Fenton Bailey und Randy Barbato spüren darin den gesellschaftlichen und kulturellen Erschütterungen nach, die in den frühen Siebzigerjahren der Erfolg des Hardcore-Pornos „Deep Throat“ auslöste. Das war noch bevor sich – nicht zuletzt nach Einwänden mancher Feministinnen – „der linke und rechte Mythos von der Schädlichkeit des sexuellen Bildes“ unauflösbar vermischten, wie es Georg Seeßlen in seinem Buch über die „Ästhetik des erotischen Films“ ausdrückt.
Inzwischen haben sich eine ganze Reihe von Filmemachern – und nicht nur die, wie kürzlich das Berliner Symposium Post Porn Politics zeigte – daran gemacht, wieder für mehr Trennschärfe zu sorgen. Meist nicht unter explizit politischen Vorzeichen, aber durchaus mit subversiven, nicht kommerziellen Intentionen. Bilderverbote sollen gebrochen werden. Seit ein paar Jahren kommen regelmäßig Filme in unsere Kinos, die Sex jenseits des im Free-TV erlaubten zeigen. Schamlippen und erigierte Penisse werden weder schamhaft versteckt noch besonders herausgestellt, sie gehören einfach zu einer realistischen Darstellung von Sexualität.
Diese Realität ist allerdings meist weder besonders schön noch sexy, wie man etwa in Patrice Chereaus „Intimacy“ sehen kann, meist ist sie sogar grausam wie in den Filmen von Catherine Breillat („Romance“), Virginie Despentes („Baise moi“) und Gaspar Noé („Seul contre tous“), oder narzisstisch wie in Vincent Gallos „Brown Bunny“.
Das Besondere an John Cameron Mitchells „Shortbus“ ist, mit welcher menschenfreundlichen Fröhlichkeit hier der Tabubruch zelebriert wird. Sex ist nicht das Problem, sondern die Lösung – genauer gesagt: guter Sex ist die Lösung. Das heißt nicht, dass der Blick auf das Private verengt würde. „Shortbus“ erhebt den Anspruch, den Zeitgeist in New York nach den Anschlägen des 11. September zu spiegeln. Gleich zu Beginn fliegt die Kamera über ein von John Bair liebevoll animiertes Stadtpanorama, vorbei an der Freiheitsstatue und hinein in die Wohnungen der Protagonisten. Da sind zum Beispiel James und Jamie, ein schwules Paar, das sich nach langjähriger Beziehung langsam auseinanderlebt und deshalb Hilfe bei der Sextherapeutin Sophia sucht. Die wiederum liebt zwar ihren Mann, täuscht aber bei den Höchstleistungs-Sexmarathons mit ihm ihren Orgasmus immer nur vor. Und dann ist da noch Severin, die als Domina ihr Geld gleich neben den Ruinen des World Trade Centers verdient, obwohl sie doch eigentlich lieber Fotografin wäre.
Sie alle treffen sich im Shortbus, einer Mischung aus libertärem Salon, Varieté und Swingerclub. Hier kann jeder seine sexuellen Fantasien in allen Spielarten ausleben oder auch einfach nur über sie reden.
Bisweilen wirken die Konflikte der Figuren in „Shortbus“ ähnlich forciert wie in einer Soap. John Cameron Mitchell – Sohn eines bis zum Mauerfall in Westberlin stationierten US-Militärkommandanten – sieht sich eher in der Tradition von New Hollywood. Robert Altman, John Cassavetes und Woody Allen nennt er als Vorbilder für seinen Film. Von Altman hat er die „Short Cuts“- Struktur der lose verbundenen parallelen Handlungsstränge übernommen, von Woody Allen das Spannungsverhältnis zwischen der Liebe zu New York und der selbstironischen Distanz zum großstadtneurotischen Treiben, von Cassavetes hat er sich die improvisierende Ensemblearbeit abgeschaut. Mit seinen Schauspielern – teilweise Laien, die er über ein offenes Casting fand – hat Mitchell über zwei Jahre hinweg in Workshops und Proben die Rollen und das Drehbuch entwickelt.
Dabei verwandte er lange Zeit darauf, erst einmal herauszufinden, welche Darsteller sich überhaupt zueinander hingezogen fühlen, sodass sie möglichst ungezwungen vor der Kamera Sex haben können. Der Aufwand hat sich ausgezahlt: Selten hat man Sex im Kino so ungehemmt und spielerisch-komisch gesehen. Selbst eine Szene, in der ein erigierter Penis als Mikrofonersatz für das Absingen der amerikanischen Nationalhymne herhält, wirkt eher wie eine spontane Albernheit und weniger wie ein kalkulierter Tabubruch.
Doch eine Rückkehr zu den naiven Sexutopien der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre kann es auch in „Shortbus“ nicht geben. Der Unterton des Films ist melancholisch: „Es ist wie in den Sechzigern – nur mit weniger Hoffnung“, sagt Justin Bond, eine Art Zeremonienmeister im Shortbus, über die Stimmung im Club. Der Shortbus ist selbst in der Metropole New York nur eine belagerte Enklave, in der jeder seine Individualität durch Sex ausdrücken kann.
Zu viel ist passiert in den letzen 40 Jahren, als dass die Hoffnungen in den Himmel schießen könnte. In einer Szene gibt sich ein älterer Gast als ehemaliger Bürgermeister New Yorks zu erkennen, der Abbitte leisten will für seine zögerliche Behandlung der Aidskrise in den Achtzigerjahren. Sein Name wird nicht genannt, doch es ist klar, dass Ed Koch gemeint ist, der von 1978 bis 1989 oberster Repräsentant New Yorks war und als „überzeugter Junggeselle“ Fragen zu seiner sexuellen Identität immer ausweichend beantwortet hat. „New York ist der Ort, an den jeder kommt, um Vergebung zu finden“, heißt es an einer Stelle im Film – zumindest im Shortbus wird sie allen gewährt.
„Shortbus“, Regie: John Cameron Mitchell. Mit Paul Dawson, Soo-Yin Lee u. a., USA 2006, 98 Min.