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Archiv-Artikel

Lausitzer Einheitsfront

„Die kommunalen Parteiprogramme sind zu 95 Prozent identisch“

AUS COTTBUS HEIKE HAARHOFF UND RAINER WEISFLOG (FOTOS)

Die Begrüßung kommt etwas holprig daher. „Meine Damen und …“, beginnt der Gast. Er beißt sich auf die Lippen, schaut verlegen in die Runde. „Liebe Genossinnen und Genossen, so heißt das ja wohl bei Ihnen eher“, korrigiert er sich. Und, um klarzustellen, dass er sich dieses Wissen nicht erst neuerdings angeeignet hat: „Ich war bei der NVA, da wurde sich auch so angeredet.“

Die Mitglieder der Linkspartei.PDS im Bürgerzentrum von Cottbus lächeln wohlwollend. Sie haben sich vorgenommen, Holger Kelch von der CDU, der an diesem Oktobernachmittag ihr Gast ist, zu mögen. Einige erleben ihn zum ersten Mal live an diesem Nachmittag, aber ihr Urteil über ihn steht bereits fest: Er ist ihr Mann. Ihr Mann für Cottbus. Am Sonntag soll der Christdemokrat Holger Kelch zum Oberbürgermeister der zweitgrößten Stadt Brandenburgs gewählt werden. Seine Chancen stehen sehr gut. Ein CDU-Mann, unterstützt von der Linkspartei.PDS, ganz offiziell. So etwas hat es hier in der Lausitz noch nicht gegeben, auch nirgendwo sonst im wiedervereinigten Deutschland.

So aber haben es die Cottbuser Parteiführungen von CDU und Linkspartei beschlossen. Vor Wochen besiegelten sie das „Bündnis für Cottbus“, dem neben CDU und Linkspartei die FDP, die Frauenliste Cottbus und die Aktiven Unabhängigen Bürger (AUB) angehören. Also alle im Rathaus vertretenen Parteien. Außer der SPD. Holger Kelch, 39 Jahre, Chef des Ordnungsamts, machten sie zum Oberbürgermeisterkandidaten ihrer gemeinsamen Wählerliste.

Und was die Führung anordnet, dem folgt die Basis. Egal, wie unzufrieden sie ansonsten ist. Mit dem Lauf der Dinge allgemein und der CDU besonders. Die hat ihnen zu Wendezeiten blühende Landschaften versprochen, und die stellt eine Kanzlerin, deren Politik sie verzweifeln lässt: Die Kaufkraft ihrer Renten schwindet, die Gesundheitsreform ängstigt sie. Und dann sind da ihre Kinder, die sind in den besten Jahren, voller Tatendrang, leben aber von Hartz IV. Und ihre Enkel, die finden keinen Ausbildungsplatz hier oder haben sich bereits gen Westen abgesetzt.

„Aber für das alles“, sagt beispielsweise der 80-jährige Willi Böttcher an einem der vorderen Tische versöhnlich, „kann doch der Holger Kelch nichts, dem sind doch auf kommunaler Ebene genauso die Hände gebunden wie uns.“

Geteilte Ohnmacht ist halbe Ohnmacht, wenigstens fühlt es sich so an. Also empfangen die Genossinnen und Genossen den CDU-Politiker wie einen Helden, mit dem sie noch so manche Schlacht zu schlagen beabsichtigen.

„Herr Kelch, ich unterstütze Sie vorbehaltlos!“

„Herr Kelch, ich bewundere Ihren Mut.“

„Ihr Name ist das Symbol einer Revolution.“

Holger Kelch wird ein bisschen rot, er krallt sich am Mikrofon fest. Jungenhaft hager, in dunklem Anzug steht er hier, vor Menschen in beigen Popelinehosen und mit ergrauten Dauerwellen, von denen die meisten seine Eltern sein könnten. Holger Kelch sucht nach Worten.

Einen solchen Vertrauensvorschuss hat er lange nicht erlebt, schon gar nicht von seiner eigenen Landespartei. Die bestellte ihn unlängst zum Rapport nach Potsdam ein, um zu erfahren, was ihn geritten habe, mit den „Linksradikalen“ paktieren zu wollen. Kelch, gelernter Elektromonteur, später Leiter einer Kfz-Zulassungsstelle, Vater von drei Kindern und bar jeder Ambition auf höhere Parteiämter, blieb stur.

Seine Argumente wiederholt er nun vor der Linkspartei, auf dass diese sie an ihre Wähler weitertrage: „Ich stehe nicht als CDU-Bewerber zur Verfügung.“ Einige im Saal nicken erleichtert. „Sondern nur auf Grundlage einer breiten Basis. Es geht um kommunale Politik. Die Stadt hat es verdient, dass wir anders agieren als in der Vergangenheit.“

Die Vergangenheit. Cottbus schrumpft seit der Wende, 130.000 Menschen lebten früher in der Industriestadt, 105.000 sind sie heute noch. Es gibt mehr Sterbefälle als Geburten und auch mehr Wegzüge als Zuzüge. Die Industriekombinate aus DDR-Zeiten haben abgewirtschaftet, die Haushaltslage ist dramatisch: Bis Jahresende könnte der Schuldenberg auf 300 Millionen Euro anwachsen. Zur für diese Misere Verantwortlichen erklärten die Ratsfraktionen im Frühjahr die parteilose Oberbürgermeisterin Karin Rätzel. In seltener Einmütigkeit warfen CDU, Linkspartei, SPD, FDP, AUB und Frauenliste ihr Führungsschwäche und Unvermögen zur Kommunikation, Misswirtschaft und Abschreckung von Investoren vor. Im Sommer wurde Karin Rätzel vorzeitig abgewählt.

Nach diesem Erfolg, so erzählen es heute CDU und Linkspartei, hätte man gern weitergemacht und als parteiübergreifendes Bündnis die Geschicke der Stadt gelenkt. Man verstand sich plötzlich so gut, auch menschlich. Sogar einen gemeinsamen Favoriten für die OB-Nachfolge gab es im Sommer: Frank Szymanski, SPD-Minister für Infrastruktur und Raumordnung in Potsdam. Ein gebürtiger Cottbuser, ein, gemessen an Brandenburger Verhältnissen, politisches Schwergewicht.

Linkspartei und CDU drängten ihn. Mehrfach. Doch Szymanski lehnte ab, immer wieder. Er wollte nicht zurück in die Provinz. Die SPD bot eine andere Kandidatin an, die Ärztin Martina Münch. Doch der traute der Rest des Bündnisses den Job nicht zu und nominierte seinerseits Holger Kelch. Kelch, rhetorisch wie visionär eine Tragödie, dafür aber sachkundig, gutmütig und verlässlich. Kelch, der Sätze sagt wie: „Wir dürfen uns nicht auf Deubel und Verderb kaputtsparen.“ Oder auch: „Ich bin den Leuten ein Dorn im Auge, weil ich einen anderen Weg einstelle, weil, ich sag’s mal so, weil der Schwanz mit dem Hund wackelt.“ Kelch wurde auch damit beauftragt, bis zur Neuwahl die Oberbürgermeistergeschäfte zu führen.

Erst danach, betonen CDU und Linkspartei heute, habe Szymanski überraschend erklärt, dass nun doch er und nicht Martina Münch für die SPD bei der Wahl antreten werde. Und zwar gegen Holger Kelch und somit gegen das Bündnis Cottbus, für das er, Szymanski, doch ursprünglich die erste Wahl gewesen wäre.

Die Enttäuschung über Szymanski, den die meisten Lokalpolitiker außerhalb der offiziellen Termine Frank nennen, schweißt CDU und Linkspartei zusammen, sie ist Futter für den gemeinsamen Wahlkampf. „Die SPD hat noch nie gewusst, was wirkliche Einheit ist“, schimpft Rentner Willi Böttcher. „Der Szymanski war früher SED-Mitglied, aber heute tut er so, als habe sein politisches Leben erst 1990 begonnen“, petzt Linkspartei-Chef Jürgen Siewert. „Er ist ein Geschichtenerzähler, so jemanden braucht Cottbus nicht“, stichelt André Kaun, Geschäftsführer der Linkspartei.

„Wir möchten doch bitte schön aufhören, Parteipolitik zu machen“

Kaun, 26, ehemals Punk, wie er gern erzählt, ist der Wahlkampfleiter des Bündnisses Cottbus. Holger Kelch habe das so gewollt. „Der ist eben erst 39 und noch nicht so gefestigt in seinen Positionen“, sagt Kaun, „der labert nicht die Gülle wie die meisten Politiker sonst.“ Der habe kein Problem damit, dass er, Kaun, jetzt eben auch mal die Pressemitteilung für die Mittelstandsvereinigung der CDU Cottbus verfasse.

Der Wahlkampf hingegen verläuft so inspiriert, wie man das kennt: Kaun ist auf die Idee gekommen, Plakate mit Kelchs Kopf drucken zu lassen und Aufkleber mit dem Slogan „Endlich gemeinsam handeln“. Darunter stehen die Namen der Bündnispartner. „Ihr könnt det auf eure Autos kleben, da wird keiner Steine werfen“, beruhigt Kaun, wenn es doch mal jemand widersprüchlich findet, dass da CDU, FDP und Linkspartei für eine gemeinsame Sache werben.

Für die letzten Wochen vor dem Wahlsonntag hat er ein Büro neben dem Rathaus gemietet. An den Wochenenden gibt es in der Fußgängerzone und an größeren Plätzen Stände in Blau-Weiß, den Farben des Bündnisses. Mit welcher Partei innerhalb des Bündnisses man gerade spricht, erkennt man nur an den unterschiedlichen Schirmen, die über den Ständen wehen dürfen. Ansonsten ist alles bewusst gleich gehalten: die Kugelschreiber, die Flyer, die Argumente. Dass angesichts der Übermacht von Bund und Ländern nur ein breites Bündnis auf kommunaler Ebene überhaupt noch etwas für die Stadt erreichen könne. Oder, um es mit den Worten des Linkspartei-Chefs Siewert zu beschreiben: „Wir möchten doch bitte schön aufhören, Parteipolitik zu machen.“

Und die Verbitterung, mit der sich CDU und Linkspartei andernorts bekämpfen? „Es kommt bewusst nicht zu solchen ideologischen Themen wie Gesundheitsreform oder Hartz IV, die wir von Cottbus aus ohnehin nicht beeinflussen können“, sagt André Kaun. Und was die Debatte um die Geschichte der Linkspartei.PDS angehe: „Ich“, sagt Kaun, „hab doch nun wirklich nichts mit Stasi, SED und DDR zu tun.“

Denkste. Unweit des Cottbuser Krankenhauses steht das CDU-Mitglied Wolfgang Zabka, 53 Jahre, und verteilt Bündnis-Cottbus-Flyer an die Passanten. „Ich“, stellt Zabka sich vor, „war zu DDR-Zeiten ein operativer Vorgang.“ Katholischer Studentenpfarrer ist er gewesen damals, er kann sich gut an diejenigen erinnern, die ihn bespitzelten, ihm das Leben schwermachten. „Sie können mir glauben, dass ich normalerweise mit der Linkspartei gar nichts zu tun haben möchte“, sagt er. Aber hier, bei der Cottbuser Oberbürgermeisterwahl, gehe es ums Ganze, um die Zukunft oder den Untergang einer Stadt. Also überwinde er sich und mache eine Ausnahme: „Ich sage mir, dass ich Christ bin.“ Ein Christ müsse vergeben und anderen zugestehen können, dass sie sich verändern. Im Falle der Linkspartei möglicherweise sogar zu Demokraten.

Wozu diese neue, erstaunliche Einheit in Cottbus führt, kann man sehen: Bei den Ausschusssitzungen begrüßen sich die Bündnis-Mitglieder längst nicht mehr bloß knapp nickend, sondern mindestens per Handschlag. Kontrovers über Schulstandorte oder Gewerbeansiedlungen diskutiert wird, wenn überhaupt, mit der Verwaltung, kaum aber zwischen den einzelnen Parteien. Selten, schwärmen die Lokalpolitiker, sei es so harmonisch zugegangen.

Bedenklich für die Demokratie findet Holger Kelch das nicht. „Pseudoparteien“, „nationale Front“, der Oberbürgermeisterkandidat wischt die DDR-Vergleiche mit einem Lächeln beiseite: „Die Spielräume auf kommunaler Ebene sind begrenzt. Wenn man die kommunalen Parteiprogramme vergleicht, dann stellt man fest, dass sie zu 95 Prozent identisch sind.“ Er sagt das wirklich so: zu 95 Prozent identisch. Linkspartei und CDU, alles eine Soße.