: Diskurs auf der Bühne
THEATER Politische und gesellschaftliche Fragen werden im Stadttheater zunehmend in Form von Tagungen und Diskussionen verhandelt – wie die Thementage „Nach uns die Sintflut!“ am Deutschen Theater
Unter Experten werden sie die „fünfte Sparte“ genannt – die Diskussionsveranstaltungen an Theatern, die heute oft einen wichtigen Teil des Programms ausmachen. Wie die Thementage am Deutschen Theater unter der Überschrift „Nach uns die Sintflut! Demokratie – Klima – Krieg“. Wissenschaftler, Experten und Performer skizzieren die Konfliktlinien von morgen, legen ihre Sicht auf die Zukunftsfähigkeit der Erde dar und präsentieren aktuelle Konzepte zur „Weltrettung“. Das Publikum kann im Sessel mitfiebern.
■ „Nach uns die Sintflut! Demokratie – Klima – Krieg“: Thementage, Deutsches Theater, Schumannstraße 8, 24.–28. 4., Programm und Informationen unter www.deutschestheater.de
VON ESTHER SLEVOGT
In unseren Stadttheatern sind sie schon länger in Mode gekommen, die Diskursveranstaltungen: politische oder gesellschaftswissenschaftliche Fachrunden, die plötzlich unter Kristalllüstern in plüschbestuhlten Zuschauerräumen oder auf Bühnen ihre Themen verhandeln, auf denen sonst bürgerliches Theater gespielt wird. Ab Donnerstag, den 24. April im Deutschen Theater zum Beispiel, wo unter der Überschrift „Nach uns die Sintflut!“ drei Tage lang Globalisierungskritiker, Klimaexperten und Umweltaktivisten ihre Sicht auf die Zukunftsfähigkeit unserer – auf die Ausbeutung der Erde gegründeten – westlichen Zivilisation erörtern.
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler ist darunter, der schon seit vielen Jahren vehement auf die Zusammenhänge von Hunger in der sogenannten Dritten Welt und dem unmoralischen, profitorientierten Agieren multinationaler Konzerne aufmerksam macht. Oder die prominente indische Wissenschaftlerin, Ökofeministin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Vandana Shiva. Shiva setzt der nach den Regeln des Neoliberalismus (und um den Preis der kulturellen Desintegration der davon überrollten nichtwestlichen Länder) betriebenen Globalisierung der Landwirtschaft ihr agropolitisches Konzept der „Erd-Demokratie“ entgegen. Darin fordert sie unter anderem, dass landwirtschaftliche Konzepte auf kulturelle örtliche Traditionen und vor allem ökologisch abgestimmt werden müssen.
Damit die Sache nicht zu theorielastig und spröde wird, gibt es auch Disko und Theater im Rahmenprogramm. Denn das Zielpublikum der Veranstaltung ist kein wissenschaftliches Fachpublikum. Angesprochen sind interessierte Theatergänger aus einer Schicht, die man früher einmal Bildungsbürgertum nannte. Doch die ist mit reinem Theater offenbar schon lange nicht mehr zufriedenzustellen. Der Hunger nach dem berühmten „Wahren, Schönen und Guten“, als dessen Hort seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters die moralische Anstalt Theater galt, ist nicht mehr allein mit Theateraufführungen zu stillen.
Aus diesem Befund hat vor zwei Jahrzehnten zuerst die Volksbühne unter dem damals neuen Intendanten Frank Castorf Konsequenzen gezogen und nicht mehr allein klassische Theateraufführungen angeboten, sondern auch Popkonzerte und eben Diskursveranstaltungen. Denn man hatte begriffen, dass dem Bedürfnis der transzendental obdachlos gewordenen Zeitgenossen der Nachwendezeit nach Bildung und vor allem Einordnung all der unübersichtlichen neuen Zeitphänomen nicht mehr allein mit Theaterinszenierungen beizukommen war, dass Unterhaltung bereits in der Vermittlung von Denkanstößen bestehen kann.
Auch stellten solche Veranstaltungen ein attraktives Angebot auch für jene Teile des Bürgertums (oder muss man Postbürgertum sagen?) dar, die längst anders als mit Theater kulturell sozialisiert worden waren – und die man auf diesem Wege doch noch ins Theater locken konnte. Was schnell auch andere Theater aufgriffen, wahrscheinlich auch deshalb, weil so ein reiner Diskursabend im Foyer oder auf der Probebühne viel billiger als eine richtige Theaterinszenierung ist. Und weil so ein neuer Zuschauer dann vielleicht auch aus Versehen einen Programmflyer mit nach Hause nimmt und für das klassische Aufführungsangebot des Theaters zu interessieren ist.
Im Hebbel am Ufer, wohin Volksbühnen-Chefdramaturg Matthias Lilienthal 2003 als Intendant gewechselt war, wurde das Diskurs- und Konferenzwesen zur veritablen Audience-Development-Maßnahme ausgebaut. Riefen die Macher der immer stärker unter Finanz- und vor allem Relevanzdruck geratenen Stadttheater mit Tschechow bisher ebenso lautstark wie hilflos „Theater muss sein!“, setzte das HAU unter Lilienthal dagegen: „Theater muss nicht sein.“ Ein guter, genau auf sein Zielpublikum abgestimmter Diskursabend findet möglicherweise sogar effizienter ein Publikum.
So hat sich das Diskurswesen in den Theatern inzwischen zur eigenen Sparte entwickelt. Denn hier können sich Zuschauerschichten, die eben mit reiner Darstellender Kunst schon längst nicht mehr zu locken sind, einen Abend lang mit irgendeinem Thema vertiefend auseinandersetzen, dessen Brisanz ihnen bisher vage bloß aus den Fernsehnachrichten bekannt ist. Der Zusammenhang von Globalisierung und Hungerkatastrophen in dieser Welt zum Beispiel.
Und das Publikum kann am Ende mit dem guten Gewissen nach Hause gehen, der fatalen Situation dieser Welt nicht vollends untätig (und unwissend) gegenüberzustehen. In gewisser Weise simuliert das Publikum mit der Teilnahme an diesen Veranstaltungen also fast schon auch politische Aktivität. Und sitzt dabei bequem im Theaterplüschsessel. Also wie eigentlich immer schon.