Existenzsorgen und Luxusprobleme

Britten statt Vivaldi: Gregor Zöllig choreografiert am Bielefelder Theater die „Vier Jahreszeiten“ zusammen mit den städtischen Philharmonikern als gesellschaftskritisches Tanztheater. Die Uraufführung arbeitet sich durch die verschiedenen Lebensphasen und spart nicht mit zeitgeistigen Seitenhieben

VON HEIKO OSTENDORF

Das Licht geht aus und der Zuschauer hat das Gefühl, ein ganzes Leben zieht an ihm vorbei. Gregor Zöllig braucht in seinem neuen Tanzstück etwas über eine Stunde, um die ganze menschliche Existenz mit fast allen Facetten zu beleuchten. „Vier Jahreszeiten“ heißt seine Choreografie, die bei ihrer Uraufführung im Bielefelder Stadttheater vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

Es ist eine dichte, streckenweise atemberaubende Produktion, die dem Tanztheaterleiter gelungen ist. Die Grundidee ist freilich wenig originell: Zöllig verbindet die Jahresabschnitte mit den Stationen des Lebens und arbeitet dabei mit bekannten Assoziationen wie Frühling und Liebe. Da robben anfangs zu Josef Haydns sechster Sinfonie „Le Matin“ die Tänzer in Bettdecken gehüllt über die Bühne wie riesige Raupen, um sich schließlich als bunte Meute in Hawaii-Hemd-Outfits zu entpuppen.

Auf den Bettdecken findet dann auch die Paarung statt. Vor einer riesigen, in schmutzige Farben getauchten, sich langsam um die Bühne drehenden Leinwand wird das Publikum Zeuge unterschiedlichster Liebesspiele. Dirk Kazmierczak zeigt einen herrlich satirischen Balztanz, mit dem er die Gunst seiner Partnerin Claudia Braubach gewinnt. Michael Löhr und Brigitte Uray vergnügen sich possierlich unter ihrer Decke. Als er dann geht, träufelt sie sich schnell Tropfen in die Augen und schafft es weinend, ihn erst mal wieder zurückzuholen.

Der vergnügliche Beginn nimmt ein jähes Ende, als der Sommer beginnt. Die Zeit der Romantik ist vorbei. Der Sommer ist heiß und anstrengend und so auch das Leben. Die Tänzer führen – jetzt in Jeans gekleidet, dem Stoff der US-amerikanischen Arbeiterschicht – Tätigkeitsbewegungen aus. Mechanisch, eingespielt, Akkordarbeit gleich. Die rhythmische Musik von Mark-Anthony Turnage gibt den Takt.

Spätestens hier wird die hervorragende Zusammenarbeit des ersten Kapellmeister Kevin John Edusei als Dirigent und Choreograf Zöllig deutlich. Die Musikauswahl umgeht dabei die üblichen Klischees: kein Vivaldi oder Scarlatti mit ihren reichlich abgenudelten „Jahreszeiten“ ertönen. Stattdessen kommen der Este Erkki-Sven Tüür und Benjamin Britten zum Einsatz.

Auf der Bühne wird die Gruppenszene zu einem Wettlauf in Richtung Bühnenrand. Jeder strebt nach vorne, will der Erste sein. Mit ihren Armen und Beinen führen die Tänzer Schläge und Tritte gegen unsichtbare Gegner aus. Der Kampf um Arbeitsplätze, um Aufstiegschancen hat begonnen. Dann bricht die erste Protagonistin aus dem Trott aus. Sie kann nicht mehr Schritt halten, wankt, bleibt stehen, bricht zusammen.

Die anderen wenden sich ab, drehen der Gescheiterten den Rücken zu. Sie weint. Währenddessen erklärt Michael Löhr dem Publikum, welche pharmazeutischen Produkte er zu sich nimmt. Von Ginseng-Extrakt über Vitamin C bis zum Fiebersenker hat er alles dabei. Existenzielle Sorgen prallen auf Luxusprobleme, machen das In-die-Unterschicht-abstürzen noch deutlicher. Besonders wenn Dirk Kazmierczak demonstrativ den Tränen benetzten Boden um Brigitte Uray herum trocken wischt.

Und dann kommt der Winter – und für Zöllig der Augenblick, uns das Leiden der Ausgestoßenen und unseren Umgang mit jenen vor Augen zu führen, die wir seit neustem als Prekarier bezeichnen. So wird die kalte Jahreszeit für Stéphanie Bouillaud zur Zeit ihrer unruhigen Suche nach einer Aufgabe oder Geborgenheit, nach irgendetwas. Sie joggt auf der Stelle, bricht bald wieder ab, umarmt sich dann selbst, auch das hält nicht lange an. Am Ende bläst Brigitte Uray eine nichtvorhandene Kerze aus: die Scheinwerfer verlöschen.

Do, 26.10., 20:00 UhrInfos: 0521-515454