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Archiv-Artikel

Es war einmal ein Staatskonzern

Die Einheitsgesellschaft für den Bergbau sollte die Schlussphase der Kohlekrise einleiten

VON HOLGER PAULER

Es war die „Stunde Null“ des deutschen Steinkohlebergbaus. Zumindest glaubte der damalige Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) und spätere SPD-Bundesarbeitsminister Walter Arendt daran. Die Gründung der Ruhrkohle AG (RAG) am 27. November 1968 in Essen als Einheitsgesellschaft für den heimischen Bergbau sollte die „Schlussphase der Kohlekrise“ einleiten.

Der Bergbau erholte sich zu dieser Zeit nur langsam. 1,2 Milliarden Euro Schulden standen zu Buche. Der Absatz stockte. 1958 lagen noch 9,5 Millionen Tonnen auf Halde, 1967 waren es zehn Millionen Tonnen mehr. Die Zahl der Beschäftigten sank in derselben Zeit von mehr als ein halbe Million auf 213.000. Jede zweite Bergwerksgesellschaft musste schließen.

Als die Gründung der RAG anstand, gab es noch 29 Unternehmen. 18 unterzeichneten am 18. Juli 1969 den Vertrag zwischen der Ruhrkohle AG und der Bundesrepublik Deutschland. Noch am Vorabend hatte der damalige Vorstandschef der Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerks AG (VEBA), Heinz P. Kemper, eine negative Stimmung verbreitet: „20:1 stehen die Wetten gegen eine Unterzeichnung“. Kemper saß schließlich mit am Tisch. Mit einem kräftigen Schluck aus dem Schnapsglas sei der Vertrag besiegelt worden, berichteten Beobachter. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter stießen damals noch gemeinsam an.

Die Unternehmen verpflichteten sich mit der Unterschrift dazu, ihr Vermögen in die neue Einheitsgesellschaft einzubringen. Die Bundesrepublik sicherte im Gegenzug durch eine Bürgschaft die Schulden der alten Gesellschaften ab. Am 31. Oktober 1969 traten weitere sechs Unternehmen der RAG bei. Der Anteil der RAG an der Kohleförderung lag nun bei 94 Prozent.

Die Montanmitbestimmung von 1951 sorgte dafür, dass im Aufsichtsrat Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern paritätisch vertreten waren. „Die RAG war korporatistisch“, sagt der Bochumer Sozialhistoriker Klaus Tenfelde. „Hinzu kam, dass die Ruhrkohle kein rein privatwirtschaftliches Unternehmen war.“ Das Prinzip des rheinischen Kapitalismus, der staatlichen Regulierung sei für den Bergbau überlebenswichtig gewesen, sagt Tenfelde. Anders als in England, wo die konservative Ministerpräsidentin Maggie Thatcher Mitte der 1980er den privatwirtschaftlich organisierten Bergbau verhungern ließ, hielt der Bund an den Zuwendungen fest. „Letztendlich dürfte die deutsche Lösung die kostengünstigere und sozialere Variante gewesen sein“, sagt Tenfelde.

Der Bund hatte die Pläne zur Gründung der Einheitsgesellschaft dabei lange ignoriert. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) hatte sich sogar gegen die Gründung der RAG ausgesprochen. Der Bergbau war bereits abgeschrieben. Und Kurt-Georg Kiesinger (CDU), Kanzler der großen Koalition, saß die Kohlekrise lieber aus. Aus gutem Grund: Sein Vorgänger Ludwig Erhard hatte sich mit dem damaligen NRW-Ministerpräsidenten Franz Meyers (beide CDU) bereits Mitte der 1960er Jahre darauf verständigt, den Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet durch massive Stilllegungen herunterzufahren und neue Industrien anzusiedeln. So könnten die Wahlkämpfe im Bund (1969) und Land (1970) stattfinden, „ohne von einer krisenhaften Situation an der Ruhr überschattet zu werden“, schreibt der Historiker Christoph Nonn in seinem Buch „Die Ruhrbergbaukrise – Entindustrialisierung und Politik 1958 - 1969“.

Doch seit dem Misstrauensvotum gegen Meyers im November 1966 regierte in Düsseldorf eine sozialliberale Koalition unter Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD). Und die Genossen an Rhein und Ruhr hofften auf tatkräftige Unterstützung aus Bonn. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1969 wollte Schiller „die lähmende Spaltung in der SPD“ überwinden und „die IG Bergbau wieder fest an die Sozialdemokratie“ binden, schreibt Nonn.

Am 21. Oktober 1967 hatten in Dortmund-Huckarde 15.000 Arbeiter gegen anhaltende Zechenschließungen demonstriert. „Ehe der Kumpel verreckt, muss die Regierung weg!“, riefen die Bergleute. Der damalige stellvertretende IGBE-Vorsitzende und spätere DGB-Bundesvorsitzende Heinz-Oskar Vetter warnte den SPD-Ministerpräsidenten: „Kühn muss sich darüber im klaren sein, dass der Fall Concordia (die Zeche sollte geschlossen werde, d. Red.) entscheiden wird, ob an der Ruhr die Dämme brechen oder nicht.“ Schließlich flogen die ersten Steine und die „Internationale“ erklang aus tausend Kehlen. „Gewerkschaftsboss Walter Arendt, der Vollblut-Tribun des Reviers, musste schon alle Register ziehen, um das Heft in der Hand zu behalten“, schrieb Die Zeit. „Die IGBE hatte Mühe, die Demonstrationen und Streikaktionen in den mehr als 30 Bergbaugesellschaften zu kontrollieren“, sagt Klaus Tenfelde. Die Einheitsgesellschaft kam da gelegen. Die Kohlegewerkschaft hatte bereits im September 1964 in Wiesbaden der „Neuordnung des westdeutschen Steinkohlebergbaus“ zugestimmt.

Schiller nahm die Demo in Huckarde zum Anlass, um IGBE und Unternehmer dazu zu drängen, die Bildung der Einheitsgesellschaft zu Ende zu bringen. Doch der Bundesregierung ging es dabei nicht nur um den Steinkohlebergbau. Die von der Steinkohle abhängige Stahlindustrie drohte damit, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern. Thyssen, Klöckner, Mannesmann, VEBA und Hoesch waren auf dem internationalen Markt nicht mehr wettbewerbsfähig. Zur Finanzierung einer geplanten Modernisierung sollten zumindest die an die Stahlwerke angeschlossenen Zechen verkauft werden.

Der so genannte „Rheinstahlplan“ war „Ausgangspunkt für die Gründung der Ruhrkohle AG“, schreibt Nonn. Die Importkohle blieb trotz anderslautender Wünsche der unabhängigen Zechen zollfrei, stattdessen subventionierte der Bund fortan den Einsatz von Ruhrkoks in den Stahlhütten. Die Kohlesubvention kam letztlich der Stahlindustrie zu Gute. Und auch die Genossen profitierten. Die SPD wurde für Jahrzehnte zur dominierenden politischen Kraft im Ruhrgebiet.

Der „Rheinstahlplan“ blieb allerdings umstritten. Der CDU-Politiker und damalige Rektor der Bochumer Ruhruniversität, Kurt Biedenkopf, glaubte, dass der Plan „mit der Marktwirtschaft nicht vereinbar“ sei. Am 16. Juli 1967 schrieb er in der FAZ: „Wird ein Unternehmen, das aus privatwirtschaftlichen Gründen betrieben wird und Gewinn erzielt, trotzdem subventioniert, so dient die Subvention der Vermögensbildung oder der Ausschüttung.“ Nach Abbau staatlicher Hilfen und Überwindung der Krisen sollte das Unternehmen eigenständig funktionieren. Doch das, sagte Biedenkopf damals, werde nicht passieren.

Auf dozierende Akademiker reagierten die Bergleute allergisch. „Die staatliche Subventionierung soll keine Dauererscheinung sein“, sagte Carl Friedrich Erasmus, gelernter Bergbautechniker und Mitglied im ersten RAG-Vorstand. Ein frommer Wunsch. Vier Jahre nach Gründung der RAG war der Kohleabsatz wieder rückläufig. Der Bund wollte die Subvention für die Steinkohle nicht mehr aus dem eigenen Haushalt zahlen. 1974 wurde der Kohlepfennig auf die Stromrechnungen aufgeschlagen. Seit 1996 kommt die Kohlesubvention wieder direkt aus dem Haushalt, nachdem der Kohlepfennig für verfassungswidrig erklärt wurde.

Mittlerweile werden nur noch 26 Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr gefördert. Die Ruhrkohle AG wurde 1999 zum RAG-Konzern. Chemie, Energie und Wohnimmobilien gehören zum „weißen Bereich“, die Deutsche Steinkohle AG (DSK) macht den Löwenanteil des „schwarzen Bereichs“ aus. Die DSK ist dabei bis heute von Subventionen abhängig: Allein vom Bund kamen im Jahr 2004 gut 2,2 Milliarden Euro, um die Arbeitsplätze von rund 40.000 Mitarbeitern zu erhalten. Das Land NRW zahlt eine halbe Milliarde pro Jahr. Zusagen für die Subvention der Steinkohleförderung gibt es nur noch bis zum Jahr 2012. Zudem gibt es aus der Landespolitik die Forderung, nach einer Zerschlagung des gesamten RAG-Konzerns, um seine Einzelteile gewinnbringend an die Börse zu bringen. „Für das Ruhrgebiet wäre dies eine Katastrophe“, sagt Tenfelde. Die Arbeitsplätze und das Know-How seien nicht zu ersetzen.

Doch RAG-Chef Werner Müller hat andere Pläne. Der ehemalige Wirtschaftsminister im Kabinett Schröder will den Essener Konzern im kommenden Jahr an die Börse bringen. Müller setzt auf Chemie, Kraftwerktechnik und Wohnimmobilien. Der „schwarze Bereich“ soll dagegen in eine Stiftung überführt werden. Gleichzeitig hält er angesichts der schwankenden Energiepreise einen Sockelbergbau für „unverzichtbar“. Die schwarz-gelb Landesregierung möchte dagegen, dass spätestens im Jahr 2018 die letzte deutsche Zeche schließt – 50 Jahre nach Gründung der RAG.