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Archiv-Artikel

Kein Geld für Kinokarten

Wer gehört zur Unterschicht? Eben nicht nur faule, Bier saufende Dicksäcke. Vor allem Kinder und Alleinerziehende sind Opfer einer Politik, die immer mehr Menschen ins soziale Abseits drängt

VON ANNE HERRBERG

Wann Sie das letzte Mal im Urlaub war? Erika Biehn muss lachen. Was für eine absurde Frage, wo sie und ihr Sohn doch nicht einmal Geld für eine virtuelle Reise per Kinokarte haben. Über die Stadtgrenzen von Lippstadt hinaus kommt Biehn höchstens beruflich – aber auch diese Fahrten muss sie aus eigener Tasche bezahlen.

Erika Biehn ist NRW-Landesvorsitzende des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter. Sie arbeitet ehrenamtlich – Geld bekommt sie durch Hartz IV. Zusammen mit ihrem 20-jährigen Sohn lebt sie von 600 Euro im Monat. Davon gehen 100 Euro für Miete ab. Denn ihre Wohnung ist teurer als die 250 Euro, die Hartz IV-Empfängern in Lippstadt zustehen. „Für das Geld kriege ich aber nur eine Wohnung in sozialen Brennpunkt-Gebieten“, sagt Biehn, „das will ich meinem Sohn nicht zumuten.“ Jeder Monat ist durchkalkuliert: 500 Euro für Kleidung, Essen, Ausbildung, aber auch für größere Anschaffungen wie eine Waschmaschine.

Damit gehört Erika Biehn zur neu entdeckten Unterschicht, lebt „mehr schlecht als recht“, wie viele der Menschen, die sie im Verband für Alleinerziehende berät. Laut NRW-Armutsbericht sind Alleinerziehende ebenso wie kinderreiche Familien oder Menschen mit Migrationshintergrund am häufigsten von Armut betroffen. „Das sind eben nicht nur Menschen, die faul in der Ecke sitzen, trinken und fernsehen“, sagt Thomas Münch, Soziologe und Arbeitsmarktprofessor an der FH Düsseldorf. „Ich kenne viele, die Vollzeit arbeiten und trotzdem nicht zurecht kommen“, sagt auch Erika Biehn. Dennoch nehmen viele dieser „working poor“, wie Hartmut Seifert, Ökonom der Hans-Böckler-Stiftung diese Menschen nennt, ihren Anspruch auf staatliche Hilfe nicht wahr. „Oft schlichtweg, weil sie sich schämen,“ weiß Biehn.

Laut einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung leben rund 1, 9 Millionen Geringverdiener in Deutschland in so genannter verdeckter Armut. Und mit ihnen etwa eine halbe Millionen Kinder. Jedes fünfte Kind in NRW lebt unterhalb der Armutsgrenze, bestätigt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Trauriger Spitzenreiter ist Gelsenkirchen, wo fast ein Drittel der Mädchen und Jungen auf Sozialhilfeniveau aufwachsen.

Der „Paritätische“ fordert deswegen seit langem eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze um 20 Prozent – bisher bekommt ein Familienvorstand 345 Euro pro Monat, die Sätze der anderen Familienmitglieder werden prozentual dazu bemessen. Doch der besondere Bedarf von Kindern werde vergessen, sagt Else Rieser, stellvertretende Landesvorsitzende des Paritätischen: Einem Säugling stünden zwar 12 Euro für Schnaps und Zigaretten zu, Windeln allerdings nicht. „Den Verantwortlichen geht es nie um die Sache, sondern immer nur ums Geld“, so Rieser.

Die Hilfen für Benachteiligte wurden in den letzten Jahren kontinuierlich gekürzt, Weiterbildungsmaßnahmen zurückgefahren, Zuschüsse für Kindertageseinrichtungen eingefroren. Und mit dem neuen NRW-Schulgesetz müssen Eltern die Kosten für Schulbücher und andere Lehrmittel selbst übernehmen.

„Das wird fatale Folgen haben“, so Hartmut Seiffert, Ökonom von der Hans-Böckler Stiftung, „Armut ist ein schlechter Nährboden für Bildung“. Wer Kindern den Start verbaue, der verbaue gleichzeitig die Zukunft eines Landes. „Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ist das absolut bescheuert!“, so Seifert.

Die derzeitige Aufregung um die neue Unterschicht sei schlichtweg scheinheilig, sagt Thomas Münch. Armut in Deutschland ist kein neues Thema, das zeigen die Armutsberichte der letzten Jahre. Debatten über „Unterschicht“ und „Prekariat“ helfen den Betroffenen nicht: „Armut wird durch sozialpolitische Entscheidungen gemacht“, so Münch. „Jetzt noch die Betroffenen als Unterschicht zu diffamieren und ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist infam und verantwortungslos.“