„In Schweden werden auch die Eltern erzogen“

Die gemeinschaftliche Verantwortung der Gesellschaft für die Erziehung ist in Schweden viel stärker ausgeprägt als in Deutschland. Dort steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt, bei uns geht es vor allem um die Rechte der Eltern

taz: Frau Kulawik, nach dem Mord an dem zweijährigen Kevin will Deutschland jetzt von Skandinavien lernen, wie man Gewalt gegen Kinder verhindert.

Teresa Kulawik: Auch in Schweden gibt es erschütternde Fälle von Kindesmisshandlung, weil die Behörden nicht rechtzeitig handeln. Kevin heißt hier Bobby: Der 10-Jährige wurde im letzten Winter von seinen Eltern grausam zu Tode gequält und dann in einem See versenkt. Daher werden nun auch hier Gesetzesänderungen vorbereitet, um die Arbeit aller Institutionen zu verbessern, die mit Kindern in Berührung kommen.

Sollte sich Familienministerin von der Leyen also lieber ein anderes Vorbild suchen?

Immerhin steht in Schweden das Wohl des Kindes im Mittelpunkt, während in Deutschland die Rechte der Eltern weiterhin sehr stark verankert sind. Dort gilt Elternschaft als eine Art Freiheitsrecht, sich selbst zu verwirklichen. Jeder darf seine Kinder erziehen, wie er will. In Schweden hingegen werden auch die Eltern erzogen. Schweden war das erste Land, das 1979 Schläge als Erziehungsmittel kriminalisierte. Die Erziehung wird sehr viel stärker als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen. So gilt es hier als selbstverständlich, dass die Kinder im Alter von einem Jahr in die Tagesstätte gehen.

Von der Leyen will die Eltern jetzt ebenfalls stärker in die Pflicht nehmen und wie in Skandinavien Gesundheitskontrollen zwingend vorschreiben, um misshandelte Kinder früher aufzuspüren.

In Schweden werden diese Untersuchungen nicht als Zwang empfunden. Hier gehört es zur Kultur, dass sich die Behörden um die Gesundheit ihrer Bürger zu kümmern haben. Dazu trägt auch das einheitliche staatliche Gesundheitssystem bei. Aber es werden nicht nur Eltern angeschrieben: Auch ich bekam jetzt zum Beispiel Post, dass ich zur Krebsvorsorge kommen soll.

In Deutschland befürchten viele , dass der Staat zur einer allmächtigen Kontrollinstanz wird.

Anders als die Deutschen sprechen die Schweden fast nie vom Staat, sondern immer von der Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist hier anders gewachsen: Die Institutionen sind bei den Bürgern stärker akzeptiert, weil die Verwaltungen von gewählten Beiräten und nicht in erster Linie von Bürokraten geführt werden. Es gibt keinen anonymen Dritten namens Staat. Bei Misshandlungen entscheiden daher auch nicht gleich ferne Behörden oder Familiengerichte, was mit den Kindern geschehen soll, sondern darüber befindet zunächst ein gewähltes kommunales Gremium, das aus ehrenamtlichen Parteivertretern besteht.

Führt das nicht zu einer sehr starken sozialen Kontrolle?

Bis in die 60er-Jahre hinein wurden tatsächlich viele Kinder ihren Eltern nur weggenommen, weil diese von den damals strikt protestantischen Normen abgewichen waren. Davon waren beispielsweise sehr viele alleinstehende Mütter betroffen. Seit den 70ern versucht man auch in Schweden, die Kinder möglichst lange bei den Eltern zu lassen und die Familie durch Betreuer zu unterstützen.

Gegen die Sozialräte gibt es aber durchaus Proteste und auch Selbsthilfegruppen.

Sicher. Und auch in Schweden existiert die Möglichkeit, nachträglich vors Verwaltungsgericht zu ziehen. Trotzdem führt die Zuständigkeit der gewählten Sozialbeiräte dazu, dass in den Gemeinden eine viel stärkere gemeinschaftliche Verantwortung für die Kinder empfunden wird.

Würden Sie dieses Verfahren für Deutschland empfehlen?

Die Einmischung der Nachbarn oder Gemeindevertreter wird dort anders wahrgenommen. Nach den Erfahrungen des Nazismus und des Kommunismus kommt leicht die Assoziation zu Blockwart und Denunziation auf. Nach zwei Diktaturen soll die Familie ein geschützter Raum bleiben, in den höchstens unabhängige Gerichte eingreifen.

Familienministerin von der Leyen will jetzt weitere juristische Maßnahmen ergreifen und die Kinderrechte in der Verfassung verankern.

Das hat nur symbolische Bedeutung und keine konkreten Folgen für die Verfahren auf der kommunalen Ebene – und dort treten die Probleme auf.

Es fällt auf, dass misshandelte Kinder in Schweden in Pflegefamilien untergebracht werden. Es gibt fast keine Heime …

… es gibt auch keine Altenheime. Sie wurden aufgelöst, und die Alten bekommen stattdessen Hilfe, um so lange wie möglich in ihrer Wohnung leben zu können. Die Schweden verstehen sich eben als ein Kollektiv von Individuen.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN