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Archiv-Artikel

„Der Status hat nicht zu interessieren“

VORREITER Bremen führte in den 90er-Jahren Sprechstunden für Flüchtlinge ein, 2005 normale Krankenkassen-Karten, 2009 Sprechstunden für Papierlose. Angestoßen hat das Heinz-Jochen Zenker

Heinz-Jochen Zenker

■ 70, Psychiatrie-Professor, war von 1983 bis 2008 Leiter des Hauptgesundheitsamtes in Bremen. Mittlerweile lebt er wieder in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzender der deutschen Sektion von „Ärzte der Welt“ (www.aerztederwelt.org) sowie der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (www.baff-zentren.org).

INTERVIEW JEAN-PHILIPP BAECK

taz: Herr Zenker, was sagen Sie zu den Fällen aus Niedersachsen und Bayern, bei denen Flüchtlingskinder unzureichend medizinisch versorgt wurden?

Heinz-Jochen Zenker: Das weist auf strukturelle Mängel hin. In Bremen hat man schon vor Jahren versucht, ein adäquates Modell der Erstversorgung auf die Beine zu stellen. Da waren wir sicherlich Vorreiter.

Gibt es große Unterschiede bei der Flüchtlingsversorgung?

Zu meiner Zeit gab es im öffentlichen Gesundheitsdienst der BRD bezüglich seiner Reformfreudigkeit ein West-Ost- und Nord-Süd-Gefälle. In manchen Gegenden herrschte die Meinung, dass Migranten mit HIV durchaus abgeschoben werden könnten. Auch heute kann man wohl nicht von einem homogen ausgerichteten Gesundheitsdienst sprechen.

Wann scherte Bremen aus?

Es fing mit den Flüchtlingsströmen der 90er an. Wenn jemand Asyl beantragt, ist laut Gesetz vorgesehen, ihn auf Infektionskrankheiten hin zu kontrollieren, etwa auf Tuberkulose. Wir haben die Untersuchung in eine freiwillige Sprechstunde umgewandelt. Wir haben zwei Arztstellen dafür geschaffen.

Als damaliger Leiter des Bremer Gesundheitsamtes haben Sie das „Bremer Modell“ mitentwickelt. Wie funktioniert dieses Modell?

Dazu gehörte ein weites Spektrum von Aktivitäten. Unter anderem bekommen Asylsuchende in der Stadt Bremen seit 2005 innerhalb von zwei bis drei Wochen eine eigene Krankenversicherungskarte.

Die Flüchtlinge sind aber nicht regulär krankenversichert?

Nein, die Krankenkasse rechnet mit dem Sozialamt ab. Das läuft nach meinen Informationen reibungslos.

Wie entstand dieses Modell?

Vorläufer waren Überlegungen zur Versorgung von Sozialhilfeempfängern. Auch die mussten sich früher vor einem Arztbesuch einen Krankenschein vom Sozialamt holen. Das war zum Teil diskriminierend und vom Verfahren her unbefriedigend.

Inwiefern?

Die Menschen sind teilweise zu spät in die Behandlung gegangen. Andere wurden wie Privatpatienten behandelt, weil das Sozialamt keine Möglichkeiten hatte, zu überprüfen, was der Arzt in Rechnung gestellt hatte. Jetzt gibt es eine Überprüfung der Krankenkasse, die über die nötigen Kompetenzen verfügt.

Es ging um mehr Kontrolle?

Es ging darum, dass Flüchtlinge ungehinderten Zugang zum Gesundheitswesen bekommen. Das ist ein fundamentales Menschenrecht. Das Modell einzuführen war sehr mutig, denn das Asylbewerberleistungsgesetz sieht bei der Versorgung von Flüchtlingen deutliche Einschränkungen vor.

Nur „akute Erkrankungen und Schmerzzustände“ sollen behandelt werden, nicht aber chronische Krankheiten …

Wenn jemand Diabetes hat, wie wollen Sie da unterscheiden, was akut und was chronisch ist? Aus medizinischer Sicht ist die vom Gesetzgeber verlangte Trennung Unsinn. Es muss immer um eine bedarfsgerechte Versorgung auf dem Niveau des Sozialstaats Bundesrepublik gehen.

Warum werden Flüchtlinge davon ausgeschlossen?

Die Bundesrepublik versucht, für Flüchtlinge weniger attraktiv zu sein, man kann auch sagen, sie schottet sich ab und benutzt dafür Barrieren des Zugangs zum Gesundheitswesen. Das hat mich immer geärgert. Gesundheit muss einlösbar sein – auch für Menschen ohne Papiere. Der rechtliche Status hat nicht zu interessieren, besonders uns Mediziner nicht. Man muss die Gesundheitsversorgung von der Innen- und Migrationspolitik trennen.

Für sogenannte „Illegale“ gibt es seit 2009 in Bremen die „humanitäre Sprechstunde“ direkt im Gesundheitsamt.

Das war eine gute Entscheidung. Es bleiben allerdings Probleme wegen der bundesgesetzlichen Restriktionen.

Hamburg übernahm 2012 das „Bremer Modell“. Wie kommt Bewegung in Behörden?

Der Abteilungsleiter für Gesundheit, Matthias Gruhl, wechselte nach Hamburg.

Also hängt es an einzelnen Personen?

Man muss bei der Krankenkassenkarte auch dem Bremer Senat auf die Schultern klopfen, die damalige Gesundheitssenatorin Ingelore Rosenkötter hat diesen „Alleingang“ mitgetragen. Es hängt immer vom Gestaltungswillen der jeweiligen Politikerinnen und Politiker ab.

Was bewog Sie, Leiter des Gesundheitsamtes zu werden?

Eigentlich kam ich aus der Psychiatriereform-Bewegung. Meine Freunde haben den Kopf geschüttelt, dass ich ein solches Amt übernehme. Ich aber hatte mir in den Kopf gesetzt, die Erfahrungen der Psychiatriereform auf den öffentlichen Gesundheitsdienst zu übertragen.

Wie sollte das gehen?

Es müssen die richtigen Leute zusammenkommen. Wir waren damals, damit meine ich die Zeit nach 1983, Ärzte in Leitungsverantwortung, die durch die 60er-Jahre geprägt waren. Als ich anfing, hatte ich die sehr wichtige Unterstützung des damaligen Gesundheitssenators Herbert Brückner. Bei Neuanstellungen texteten wir in den Anzeigen, dass es uns um die Wiederbelebung der kommunalen Gesundheitsversorgung nach Vorbild der Weimarer Republik gehe. Das hat eindeutig engagierte Kollegen angezogen.

Lief das immer reibungslos?

Nicht immer. Der damalige CDU-Innensenator Thomas Röwekamp meinte wohl, im Gesundheitsamt säßen nur humanitäre Überzeugungstäter. Gutachten, ob Menschen abgeschoben werden können, hat er dann in Hamburg in Auftrag gegeben.