: Jazz zwischen Zimmerpflanzen
STADTLEBEN Vom Internet direkt in die WG: Singende Wohnzimmer sollen Nachbarschaft herstellen – und im besten Fall auch noch vielversprechende Musikerkarrieren finanzieren
Lustig wird es, wenn Retro auf Digital trifft, oder einfacher gesagt, wenn eine alte Idee mit neuesten Mitteln durchgesetzt wird. So ist es mittlerweile etwa möglich, sich Jazzplatten aus den fünfziger Jahren per Internet aus entlegenen amerikanischen Provinzplattenläden kommen zu lassen.
Eine andere seit einiger Zeit erfolgreiche Idee ist die des digitalen Klingelbeutels für Off-Kunst, die es schwerhat, finanziert zu werden. Diese Idee treibt viele um, die irgendwas mit Kunst machen wollen, aber von staatlichen oder betrieblichen Stellen nicht an die entsprechenden Geldtöpfe gelassen werden. „Crowdfunding“ heißt das.
Eine Gruppe namens „Polly & Bob“ versucht jetzt, die Berliner Off-Musik-Szene unter diesen online herumgehenden Hut zu bringen, um „aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit“, so ihr Werbeflyer, zu kommen. Eine der wirklich charmanten Ideen ihrer Frühjahrsinitiative sind die „singenden Wohnzimmer“. Klar, es geht ja auch um virtuelle und wirkliche Nachbarschaften: Die einen stellen das Wohnzimmer, die anderen die Musik, und die Dritten buchen Karten im Internet (die Karten sind umsonst!) und kommen dann, um neue Künstler kennenzulernen.
Ist Off-Kunst ein Elend?
Prima Idee also, die an diesem Wochenende zahlreiche Wohnungstüren öffnete. Es gab viel verschiedene Musik in tatsächlich vielen Berliner Bezirken, nicht nur in den üblichen, sondern auch in Spandau oder Wilmersdorf. So spielte Suzy Bartelt, Anfang 30, studierte Jazzsängerin und Musikantin, in einem hellen Terrassenzimmer mit Blick auf den ehemaligen Mauerstreifen in Treptow. Begleitet wurde sie von einem Perkussionisten mit Namen Tom. Die Atmosphäre in diesem Zimmer war mehr als familiär, da nicht alle, die sich übers Netz angekündigt hatten, auch tatsächlich erschienen waren. So wurde es für eine gute Stunde ein intensives Konzert, nur kurz gestört von den überlauten Glocken einer nahe gelegenen Kirche.
Anders ging es in der Neuköllner Weserstraße zu, wo der Kiezchor Weserstraße in einer großen WG unter anderem die besten Hits der Neunziger vorsang. Spaßig, aber auch sehr gut arrangiert. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten – „Eye of the Tiger“ oder Haddaways „What Is Love“ wurden mit „Dare“ und „Get Lucky“ ausgeglichen.
Was natürlich viel über den sozialen Rahmen erzählt: eine studentische Idee, die in einem studentischen Umfeld Platz findet. Die feinen Unterschiede haben sich über die Jahre scheint’s kaum verändert: Hier die Fraktion mit hellem Holz, reichlich Zimmerpflanzen, aus der Decke schauenden Kabeln und Wandbehang mit paisleyähnlichen Mustern; dort die Cool-witzig-Fraktion mit aus alten Fensterrahmen selbst gezimmerten Hochbettkonstruktionen und irgendwo geklautem Schild, auf dem groß TIERE steht.
Man kann das auch ins Musikalische übertragen: Hier die ironisierte Bearbeitung von Mainstreampop als Chorformat, da die ewige Fortschreibung von Jazzpop, vor der ich wiederum – wohl auch aus klassenspezifischen Gründen – kapitulieren muss: höhere Bürgerkindermusik im Hippie-Umfeld.
Ob dort die wirklich gute, weil alle Rahmen sprengende Musik entsteht und gedeiht? Hilft es der Off-Kunst, wenn sie sich virtuell verbindet und kleinkommerzialisiert? Oder ist Off-Kunst an sich (immer noch) ein Elend? Wie auch immer: Spaß gemacht haben die „Singing Wohnzimmers“ auf jeden Fall. RENÉ HAMANN