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Archiv-Artikel

Mit dem Sonderzug in den Tod

VON SARAH KIRKEGAARD

Das letzte Lebenszeichen von Oscar Hoffmann ist eine Postkarte, datiert vom 24. Juli 1942, „morgens 7 Uhr“. Sie liest sich wie ein Gruß aus der Sommerfrische. „Meine lb. Familie Bernauer“, schreibt der junge Kölner an seine ehemaligen Lehrherren in Troisdorf, „nach 87stündiger Fahrt sind wir gesund, munter und guten Mutes in Minsk angekommen.“ Die Reise als solche, berichtet Oscar, sei für ihn ein „großes Erlebnis“ gewesen. Ausführlich schildert er seine Eindrücke von den Städten und Dörfern, die er am Zugfenster hat vorbeirauschen sehen.

Für den elternlosen 19-Jährigen, dessen Leben als Jude in Köln von Verboten und Demütigungen, von Zwangsarbeit und Perspektivlosigkeit bestimmt war, ist es die erste große Reise seines Lebens, ein Abenteuer, verbunden mit der vagen Hoffnung auf einen Neuanfang. „Wenn es Ihnen möglich ist, senden Sie mir bitte mein Zeugnis“, schreibt er noch, „da dies von Wert sein soll.“ Doch als die Postkarte bei den Bernauers eintrifft, ist Oscar Hoffmann bereits seit über einer Woche tot.

Auf der Deportationsliste der Kölner Gestapo ist „Hoffmann, Oscar I.“ nur ein Name unter vielen. Im Reichsbahnzug DA 219, der am 20. Juli 1942 fahrplanmäßig um 15 Uhr den Bahnhof Köln-Deutz verlassen hatte, befanden sich 1.164 jüdische Menschen aus Köln und Umgebung, darunter 335 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier Monaten und 19 Jahren. Von den meisten ist, anders als im Falle Oscar Hoffmanns, keine Erinnerung geblieben. Es existieren keine überlebenden Angehörigen, in vielen Fällen gibt es nicht einmal ein Foto. Denn fast alle Kinder im Transport DA 219 waren Waisen oder durch frühere Deportationen und Zwangsaussiedlungen von ihren Eltern getrennt. Sie galten damit den Nazis im doppelten Sinne als „Ungeschützte“: als rassisch minderwertig und als unnütze Esser, die ohnehin niemand vermissen würde.

Ihre Unterkünfte in der Kölner Innenstadt hingegen, das israelitische Kinderheim ebenso wie das jüdische Waisenhaus, stellten begehrten Wohnraum und einen günstigen Möbelfundus für ausgebombte Nichtjuden dar. Schon deshalb fragte wohl niemand weiter nach, als die jüdischen Kinder, ihre Betreuer und ihre Lehrer am hellichten Tag mit ein paar Koffern ins Sammellager in den Deutzer Messehallen abtransportiert wurden, um von dort aus ihre Heimatstadt für immer zu verlassen.

Erschossen und verscharrt

Nach dem Krieg galten die Kinder zunächst als vermißt, bis man sie irgendwann für tot erklärte. In historischen Untersuchungen wurde spekuliert, dass ein Großteil der 1942 nach Weissrussland deportierten deutschen Juden in Gaswagen umgekommen war. Tatsächlich aber wurden alle 1.164 Passagiere des Zuges DA 219 unmittelbar nach ihrer Ankunft in Minsk in ein Waldstück beim Vernichtungslager Maly Trostenez gebracht. Dort wurden sie durch Genickschüsse ermordet und in Gruben verscharrt. Ein Jahr später, im Spätherbst 1943, wurden ihre Leichen in einer streng geheim gehaltenen Aktion von Wehrmachtssoldaten wieder ausgegraben und verbrannt, um vor dem Näherrücken der Rote Armee die letzten Spuren zu verwischen.

Bis heute ist dieses Massaker weitgehend unbekannt. Schon allein deshalb, weil es ungesühnt blieb. Die Täter, Mitglieder eines Exekutionskommandos aus Waffen-SS und Sicherheitsdienst, wurden nie bestraft. Zudem blieb auch die genaue Anzahl der Opfer lange Zeit ungeklärt. Denn die SS hatte bei Kriegsende die Deportationslisten vernichtet. Erst 1981 wurden im „wissenschaftlichen Nachlass“ des ehemaligen Leiters des Sittenamts an der Universität zu Köln Kopien dieser Listen gefunden. Doch da es in Deutschland keine Angehörigen und auch sonst niemanden mehr gab, der eine genauere Aufklärung über den Verbleib der Deportierten gefordert hätte, blieb die Namensliste gesichts- und bedeutungslos: Oscar Hoffmann und die 1.163 anderen wurden Teil einer anonymen, unfassbaren Masse von Ermordeten, die scheinbar keine Spuren hinterlassen hatten. Schon gar nicht im Kölner Nachkriegsalltag.

Zwar erinnern heute in der Kölner Innenstadt zahlreiche „Stolpersteine“, Gedenktafeln und Mahnmale an die Opfer der NS-Zeit und an die ehemaligen Stätten jüdischen Gemeindelebens. Am „Löwenbrunnen“ in der Innenstadt, errichtet 1997 zum Gedenken an alle ermordeten jüdischen Kinder aus Köln, sind unter mehr als tausend eingravierten Namen auch die Passagiere des Zuges DA 219 zu finden, jedoch ohne Hinweis darauf, was ihnen zugestoßen ist. Und gerade weil die Vergangenheit inzwischen fast überall so unauffällig präsent ist, fragt kaum noch jemand nach den Schicksalen, die sich hinter den vielen Namen und Zahlen verbergen.

„Gruppenreise“ per Bahn

Eine engagierte Spurensuche bringt jedoch auch heute noch neue Details ans Licht, wie jetzt der Filmemacher Jürgen Naumann in der Fernsehdokumentation „Die vergessenen Kinder von Köln“ beweist. In seinem Film wird das Leben und Sterben der 335 Kölner Kinder, die im Juli 1942 bei Maly Trostenez ermordet wurden, zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. In jahrelanger Recherchearbeit hat Naumann Dokumente ausfindig gemacht, die bisher als verschollen galten oder einfach keine Aufmerksamkeit fanden, wie etwa die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten. In einem tschechischen Archiv stieß Naumann auf einen Tätigkeitsbericht der SS in Minsk, der detailliert die „Behandlung“ der im Juli 1942 eingetroffenen Kölner Juden schildert. Filmaufnahmen von der Exhumierung der Leichen im Wald hinter Maly Trostenez fanden sich auf dem Minsker Trödelmarkt. Er habe die Geschichte „lückenlos“ erzählen wollen, erklärt der Filmemacher, denn: „So lange wir immer noch mit neuen Aspekten, Fakten und Informationen konfrontiert werden, ist die Vergangenheit nicht vergangen.“

Tatsächlich macht Naumanns Film gerade durch die teils grausigen, teils zynisch banal wirkenden bürokratischen Einzelheiten dieses Falles die unmenschliche Systematik des Holocaust anschaulich. Unterlagen der Reichsbahn beispielsweise geben Aufschluss über die amtlichen Euphemismen im Umgang mit den „Sonderzügen“ – das Kürzel „DA“ vor der Zugnummer stand für „Deutsche Aussiedler“, im internen Jargon für „Davidzug“ – und verdeutlichen zugleich, welch gutes Geschäft sich mit den Transporten machen ließ. Denn die Reichsbahn gewährte der SS Pauschaltarife für diese „Gruppenreisen“, während die Deportierten nicht nur eine „Reichsfluchtsteuer“, sondern auch 50 Reichsmark pro Fahrkarte selbst bezahlen mussten, Kinder unter zehn Jahre die Hälfte.

Doch um die Schicksale der „vergessenen Kinder von Köln“ wirklich lückenlos zu rekonstruieren, holt der Film weiter aus: bis in die Zeit um 1933, als mit der Machtübernahme durch die Nazis der deutsch-jüdische Alltag in Köln auch aus der Sicht der Kinder einen dramatischen Einschnitt erfuhr. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklungen, die Naumann durch den Einsatz von Filmmaterial aus dieser Zeit besonders lebendig gestaltet, bildet die „Jawne“, das jüdische Realgymnasium in Köln, das mit dem Schicksal der 335 in Minsk ermordeten Kinder auf besonders tragische Weise verbunden ist. Sämtliche in Köln verbliebene Schülerinnen und Schüler der „Jawne“ sowie alle jüdischen Heimkinder, die nach der Räumung des Waisenhauses im Gebäude der „Jawne“ untergebracht worden waren, standen im Juli 1942 auf der Deportationsliste für den Reichsbahnzug DA 219, ebenso der Schuldirektor Erich Klibansky mit seiner Frau und den drei Söhnen.

Perspektive der Opfer

Dank der vergleichsweise gut dokumentierten Geschichte dieser Schule und des bis heute bestehenden Netzwerks an Überlebenden ist es Naumann gelungen, einige Fotos der „vergessenen Kinder“ und viele Zeitzeugen aus ihrem Umfeld aufzuspüren. Darunter finden sich mehrere Geschwisterkinder der Ermordeten. Einem von ihnen war bereits vor der Deportation die Flucht nach Palästina geglückt, eine andere überlebte in Theresienstadt. Diese Überlebenden haben es Jahre lang vermieden, sich ausführlicher mit dem Schicksal ihrer toten Angehörigen zu beschäftigen und sprechen in den Interviews mit Naumann zum ersten Mal über ihre Geschichte. Es sind diese Erzählungen, die Naumanns filmischer Spurensuche ihren Sinn geben. Weil sie Erinnerungen schaffen, die notwendig sind, um trauern zu können. So wird, über den Umweg der Überlebenden, in gewisser Weise das Unmögliche möglich: die Aufarbeitung der Morde an Kindern und Jugendlichen aus der Perspektive der Opfer. Wie arglos diese Perspektive gewesen sein dürfte, verrät die letzte direkte Spur der Deportierten: Oscar Hoffmanns hoffnungsvolle Postkarte, geschrieben und abgeschickt am Morgen seines Todes.

„Die vergessenen Kinder von Köln“, 1. 11 um 23.15 Uhr im WDR Fernsehen