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Archiv-Artikel

Dynamische Justitia

GESETZ UND GESCHICHTE Dreitausend Jahre überblickt der Rechtswissenschaftler Uwe Wesel in „Geschichte des Rechts in Europa“ und findet Gemeinsamkeiten, nationale Eigenheiten und sogar Gerechtigkeit

Wesels Vorliebe gilt den Interessen und Kämpfen hinter dem geschriebenen Recht

Europa ist anders als andere Kontinente, einzigartig in seiner Vielfalt. Mit dieser Behauptung beginnt Uwe Wesel seine „Geschichte des Rechts in Europa“. Doch am Ende des großen Werkes bringt er die Vielfalt auf einen gemeinsamen Nenner. Das Besondere der europäischen Rechtskultur sei die Trennung von Recht und Religion, von Staat und Kirche. Diese Idee, die bis in die Antike zurückreiche, habe die europäischen Gesellschaften – zumindest seit der Renaissance – dynamischer gemacht als andere Rechts- und Kulturkreise.

Uwe Wesel hat ein wohlwollendes Buch geschrieben, das an den Fortschritt glaubt und düstere Epochen nur als Rückschläge einordnet. Aber wer fast drei Jahrtausende Geschichte überblickt und ein Europa vorfindet, das seit immerhin 65 Jahren keinen großen Krieg mehr erlebt hat und alle Diktaturen abschütteln konnte, hat auch Grund dazu. Drei Jahrtausende – was für eine Herkulesaufgabe! Doch Wesel war sicher der Richtige für dieses Vorhaben. An der Freien Universität Berlin lehrte der heute 77-Jährige jahrzehntelang als Rechtshistoriker. Als linker Jurist hatte er immer schon eine Vorliebe für die Interessen und Kämpfe hinter dem geschriebenen Recht.

Wesel konnte also auf vieles zurückgreifen, und doch ist sein neues Buch anders als etwa seine „Geschichte des Rechts“ von 2001. Dort begann er mit Mesopotamien und dem alten Ägypten, um sich dann ab dem Mittelalter auf den deutschen Sprachraum zu konzentrieren. Sein neues Buch beginnt zwar im antiken Griechenland, nimmt aber fast durchgängig den gesamten europäischen Raum rechtsvergleichend in den Blick, von Spanien bis Russland, von Italien bis Norwegen – und ist damit sozusagen ein rechtshistorisches Heimatbuch.

Es zeigt uns Europäern die gemeinsame Geschichte und den Hintergrund vieler nationaler Eigenheiten. In jeder Epoche beschreibt Wesel zunächst die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Europa und referiert dann den Stand der jeweils wichtigsten Rechtsgebiete einzelner Staaten. Im 20. Jahrhundert spart Wesel dabei auch die realsozialistischen Regime nicht aus und beschreibt, wie beispielsweise Lenin nach der Oktoberrevolution die Idee der freien Liebe als „bürgerlich-dekadent“ brandmarkte und stattdessen ein fortschrittliches Eherecht einführte.

Natürlich musste Wesel vieles im Zustand der groben Skizze belassen. Das Arbeitsrecht des 20. Jahrhunderts ist mit der Beschränkung auf das Streikrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit sicher nicht ausreichend erfasst. Wer es genauer oder umfassender wissen will, muss sich eben an Spezialliteratur halten – falls es in der europäischen Breite, die Wesel bietet, überhaupt Alternativen gibt.

Die „Geschichte des Rechts in Europa“ ist keine große Erzählung, keine Metatheorie mit vielen verwobenen Erzählsträngen, bleibt aber trotz der aberwitzigen Faktenfülle gut lesbar. Hierzu dienen auch die immer wieder eingestreuten Schilderungen wichtiger oder zeittypischer Prozesse, gegen Sokrates, Jeanne d’Arc, Galilei und die deutschen NS-Kriegsverbrecher. Auf der Suche nach der Gerechtigkeit im modernen Recht endet das Buch mit dem Verfahren gegen die Berliner Supermarktkassierein Emmely, der gekündigt wurde, weil sie gefundene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst hatte. Kurz vor Drucklegung konnte Wesel noch einen Satz ergänzen: „Nachtrag: Das Bundesarbeitsgericht hat ihre Kündigung am 10. Juni 2010 aufgehoben.“ Ein versöhnlicher, ein passender Schluss für dieses Buch.

CHRISTIAN RATH

Uwe Wesel: „Geschichte des Rechts in Europa“. C. H. Beck, München 2010, 744 S., 38 Euro