: Europas Grenze der Angst
FLÜCHTLINGE Amnesty International fordert wegen der „unhaltbaren Zustände“ im Umgang mit Flüchtlingen ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Griechenland
SYRISCHER FLÜCHTLING ÜBER DIE NÄCHTLICHE ILLEGALE ABSCHIEBUNG DURCH GRIECHISCHE GRENZSCHÜTZER
VON CHRISTIAN JAKOB
BERLIN taz | Dem Krieg in Syrien war der 19-jährige G. entkommen, doch Europa wies ihn ab: „Die Polizei brachte uns in eine Zelle, dort waren bereits 35 Personen eingesperrt. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen Männer mit schwarzen Kapuzen, ohne Abzeichen auf ihren Uniformen. Sie luden uns alle in einen großen Van und brachten uns zum Ufer des Flusses. Mit einem kleinen Holzboot fuhren sie uns hinüber in die Türkei. Sie schlugen jeden, der langsam war.“
So berichtet G. wie er im November 2013 direkt nach seiner Ankunft von griechischen Grenzschützern über den Fluss Evros in die Türkei zurückgeschoben wurden – ohne dass Griechenland ein Asylverfahren eingeleitet hätte.
148 Flüchtlinge und Migranten hat Amnesty International für einen am Montag vorgestellten Bericht über die Lage an der griechischen EU-Außengrenze befragt. Die Betroffenen saßen in Abschiebelagern in Griechenland und Bulgarien oder hielten sich in der Türkei auf. Das Ergebnis: Die Situation an der Grenze zur Türkei habe sich dramatisch verschlimmert. „Flüchtlinge müssen sich vor der griechischen Küstenwache nackt ausziehen, ihre Habseligkeiten werden weggenommen, und sie werden mit Waffen bedroht, bevor sie in die Türkei zurückgeschoben werden“, sagte Franziska Vilmar, Asylexpertin von Amnesty International in Deutschland.
Die Flüchtlinge berichten vom Einsatz von Elektroschockern und dem Diebstahl von Pässen und Geld. „Dies sind unhaltbare Zustände“, sagt Vilmar. „Die sogenannten Push-Backs verstoßen gegen internationales und europäisches Recht. Die EU muss mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland vorgehen.“
Einer der schlimmsten Unfälle bei der Zurückweisung Schutzsuchender geschah am 25. Januar. Damals waren vor der griechischen Insel Farmakonisi elf Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan ertrunken, als die griechische Küstenwache ihr Boot in die Türkei zurückschleppen wollte. Die griechische Regierung spricht bis heute von einem „Rettungseinsatz“, zwei Untersuchungen laufen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist seit Langem in der Region aktiv und unterstützt die griechischen Grenzschützer mit Personal, Geld und Material. Allein in den letzten Jahren hat die Agentur fast 40 Millionen Euro für die Operation „Poseidon Land and Sea“ in Griechenland ausgegeben. „Frontex sollte Teile dieser Operationen aussetzen“, fordert Amnesty angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen.
Vor Kurzem hatte Frontex-Vizedirektor Gil Arias im taz-Interview gesagt: „Wenn es schwerwiegende Grundrechtsverletzungen gäbe, könnten wir unsere gemeinsame Operationen mit Griechenland stoppen. Aber wir haben keine Hinweise, dass Grundrechtsverletzungen oder die Tragödie von Farmakonisi im Rahmen unserer gemeinsamer Operationen geschehen sind.“
Bereits im November hatte Pro Asyl eine ganz ähnliche Studie vorgelegt wie jetzt Amnesty. Die Angaben der 90 von Pro Asyl befragten Flüchtlinge decken sich exakt mit den Schilderungen im Amnesty-Bericht.
2013 ist die Zahl der Grenzübertritte von Flüchtlingen nach Griechenland in der Region Evros stark zurückgegangen. Menschenrechtsorganisationen vermuten die illegalen Zurückweisungen als Grund hierfür.
Doch auch jenen, die durchkommen, ergeht es schlecht: Vor zwei Wochen kündigte die Polizei Flüchtlingen in Fylakio, dem größten griechischen Internierungslager am Evros an, sie so lange in Haft zu lassen, bis sie ihren Asylantrag zurückziehen und freiwillig ausreisen.