: Schiwago kifft und Dracula tanzt
Expressionistische Phantasmagorien, die der Realität nichts zu schulden scheinen. In der Guy-Maddin-Retrospektive „Kino Delirium“, die diese Woche beginnt, zeigen Metropolis und Lichtmeß alle seine Filme
Ja, das Kino kann immer noch überraschen! Es kann in Welten entführen, die ganz aus unserer Zeit herausgefallen zu sein scheinen. Es gibt Filme, die so bizarr sind, dass man Schwierigkeiten bekommt, zu definieren, was man da überhaupt sieht. Und die dabei so radikal und stilsicher sind, dass man nie die Nahtstellen sieht, an denen man sonst fast immer den Regisseur bei seinen Tricks erwischen kann.
Der Kanadier Guy Maddin ist solch ein Filmemacher, dessen Kino der Realität nichts zu schulden scheint. Seit etwa zwanzig Jahren bastelt er in seinen Gerümpelschuppen in Winnipeg expressionistische Phantasmagorien zusammen, die verloren gegangene Meisterwerke aus der Ära zwischen den Kriegen zu sein scheinen. Als wären sie in vergessenen Archiven vom Lauf der Zeit mariniert worden, sind seine Filme grobkörnig und unscharf. Das Bild läuft manchmal zu schnell, die Schwarzweißbilder sind durch Kratzer auf alt getrimmt und auf der Tonspur überlagern sich nachsynchronisierte Dialogfetzen, Rauschen und Filmmusik im Stil der 20er Jahre. Inzwischen ist Maddin ein Virtuose in der künstlichen Alterung seiner Filme.
Und auch die extrem melodramatischen Plots sowie die expressionistisch übertriebenen Gesten der Schauspieler erinnern an alte Stummfilme. Maddin erweckt vergessene Konventionen neu und ironisiert sie dabei. In „Archangel“, seinem Schauerstück über den ersten Weltkrieg aus dem Jahr 1990, das wie eine Kifferversion von Dr. Schiwago wirkt, hebt der Filmheld mit dem bezeichnenden Namen „Jannings“, nachdem er von einem Bolschewiken erstochen wurde, seine Eingeweide (die wie Partywürstchen aussehen) vom Boden auf und erwürgt damit seinen Mörder. „Mit Gedärmen erwürgt“ steht auf dem folgenden Zwischentitel. Im gleichen Film findet sich eine Sequenz von traumhafter Schönheit, in der erschöpfte Soldaten in ihren Schützengräben einschlafen und von einer Invasion aus dem Himmel fallender Kaninchen heimgesucht werden.
„Ich habe immer ein großes surreales Kopfkissen unter mir ausgebreitet“, erklärt Maddin selbst in einem Interview, „denn wenn meine Zuschauer aus der Geschichte herausfallen würden, hätten sie etwa Weiches, auf dem sie landen könnten, und sie könnten zumindest die Behaglichkeit des Unbestimmten genießen.“ Schon mit seinem Spielfilmdebüt „Tales from the Gimli Hospital“, das während einer Pockenepidemie zur Zeit des vorletzten Jahrhundertwechsels spielt, wurde Maddin 1988 ein Geheimtipp auf internationalen Festivals. Nach „Archangel“ inszenierte Maddin mit „Careful“ den ultimativen deutschen Bergfilm als eine Mischung aus Riefenstahl und Caligari. Bei „Twilight of the Ice Nymphs“ konnte er dann 1997 zum ersten Mal mit einem Millionen-Budget und internationalen Stars wie Shelley Duvall arbeiten und das Ergebnis war eine erotische Idylle im Stil der Gemälde der französischen Symbolisten des 19. Jahrhunderts. Noch abgedrehter war dann „Dracula – Pages From a Virgin’s Diary“, eine Melange aus Ballet und Horrorfilm, bei der Maddin eine Choreographie des Royal Winnipeg Ballet bearbeitete, die auf dem Roman von Bram Stoker basiert. Auf den amerikanischen Kritiker Roger Ebert wirkte der Film wie eine lang verschollen Musical-Version von F. W. Murnaus „Nosferatu“.
Maddins neuster Film „The Saddest Music in the World“ basiert zwar auf einem Drehbuch des Schriftstellers Kazuo Ishiguro, ist aber wieder eine hyperpathetische Erzählung, in der Isabella Rossellini ekstatisch auf mit Bier gefüllten Glasbeinen tanzt. Das muss man sehen, um es zu glauben. WILFRIED HIPPEN