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Archiv-Artikel

Matrosen auf Fahrt durch die Genres

DEUTSCHLANDKONZERT Die virtuelle Band Gorillaz ließ auf der Bühne die Masken fallen und zeigte sich in Fleisch und Blut. Neben Gaststars wie Bobby Womack hatten sie ein komplettes arabisches Orchester mit dabei

Der unbestrittene Zeremonienmeister auf der Bühne ist Damon Albarn höchstselbst

VON FRANZ X. A. ZIPPERER

Im Berliner Velodrom spielten die Gorillaz ihr einziges Deutschlandkonzert. Zunächst nichts Aufregendes. Doch die Gorillaz sind eine virtuelle Band im eindimensionalen Zeichentrickformat. Vier Comicfiguren halt. Und doch eine vollwertige Band. Jedes Mitglied hat seine eigene Popgeschichte.

Da gibt es den Punk Stuart Tusspot, auf der Bühne heißt er nur 2D. Er singt und schafft dabei locker den Spagat zwischen Bariton und Falsettsopran. Auch mit den schwarz-weißen Tasten eines Klaviers ist er bestens vertraut. Gruppenältester ist der 44-jährige Bassist Murdoc Faust Niccals, ein Altrocker mit Metalvergangenheit. Die Japanerin Noodle ist mit gerade 20 Jahren das Nesthäkchen. Obwohl auch 2D und Murdoc fit an der Gitarre sind, überlassen sie diesen Part Noodle. Der sanfte Hiphop-Hüne Russel Hobbs am Schlagzeug komplettiert das musikalische Quartett.

Erschaffen wurden diese Comic-Popstars vom Zeichenstift des Tank-Girl-Erfinders Jamie Hewlett, die Noten dazu lieferte Damon Albarn, Sänger von Blur. Die hibbeligen Figuren resultierten aus Albarns und Hewletts Frust über die Gleichförmigkeit der aktuellen Pop- und Rockszene und über die Austauschbarkeit der dazugehörigen herumhampelnden Bühnenfiguren. Dann doch lieber gleich ganz und gar unecht.

Eine virtuelle Band hat Vorteile ohne Ende. Ganz nach Belieben kann das musikalische Genre wechseln. Der Viererpack wird hervorgeholt, wenn er gebraucht wird und was zu sagen hat. Wenn nicht, verschwindet er in der Versenkung. Das führte dann auch nur zu drei Platten in nahezu zehn Jahren. Aktuell steht „Plastic Beach“ in den Regalen der Händler.

Die Schwierigkeit, die flache Comic-Welt in echtes, dreidimensionales Bühnengeschehen zu überführen, wurde bislang meist mit Konzerten hinter einem Vorhang gemeistert, auf dem die lustigen Figuren als animierte Comics oder Hologramme auftauchten. Diese Zeiten sind vorbei. Der Vorhang ist gefallen. Er hat eine Bühne freigelegt, hinter der sich der Name Gorillaz in riesigen farbmäandernden Lettern manifestiert. Darüber schwebt eine haushohe Leinwand. Während das Treiben auf der Bühne von Wesen aus Fleisch und Blut bestimmt wird, übernehmen auf der Filmwand die vier Gorillaz-Helden 2D, Murdoc, Noodle und Russel in Form von Videos und Animationen das Kommando.

Die Livemusik stammt von einer seltsamen Combo. Sie schaut aus, als wäre sie soeben einer finsteren Hafenspelunke entstiegen. Schmierige, gestreifte Matrosenhemden, Kapitänsmützen und angeranzte Piratenkopftücher zieren die Musiker. Die goldenen Knöpfe an den zahlreichen Uniformen blitzen und blinken längst nicht mehr.

Der unbestrittene Zeremonienmeister ist Damon Albarn höchstselbst. Während des Konzerts schickt er ein Genre nach dem anderen ins Rennen. Die Spanne reicht von Hiphop über Dub und Elektronisches bis hin zu Klängen aus dem Libanon.

Um eine solch brisante Mischung überhaupt ausleben zu können, bedarf es hochkarätiger, aber fokussierter Unterstützung. Da tummelt sich ein munteres Völkchen von acht Bläsern, es gibt scharenweise Streicher und eine ganz normale Rockbesetzung sowie illustre Gastmusiker. Altmeister Bobby Womack etwa verpasst dem Ganzen eine ordentliche Soulspritze, Hiphop-Ikone Mos Def hingegen ist für die Rap-Reime zuständig. Die originären Melodien aus dem Nahen Osten liefert das National Orchestra For Arabic Music.

Die zum Teil von weit her gereisten Zuhörer sind nach Bekleidungsstil und Alter wild gemischt. Turnschuhe treffen auf frisch geputzte Ledertreter, Highheels auf Fellstiefel. Und feiner Zwirn auf von den Hüften fallende Jeanshosen.

Alle lassen sich von den prallen Noten und rauschhaften Tonfolgen und Bilderbögen mitreißen, die Stimmung ist schön düster und melancholisch. Mit diesem grandiosen Gebräu aus Comic-, Revue-, Cabaret- und Vaudeville-Elementen ignorieren die Gorillaz nicht nur jegliche Grenzen der modernen Musikgeschichte, sie reißen sie schlichtweg nieder.