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Archiv-Artikel

Glücklich? „Ich hab mal davon gehört“

HAUSBESUCH Er sitzt im Rollstuhl und lässt sich nicht gern rumkommandieren. Bei Mike Schürer in Hönow

VON MARLENE GOETZ (TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Hoppegarten-Hönow, im Landkreis Märkisch-Oderland, östlich von Berlin, zu Hause bei Michael Schürer (69) – „Mike, seit spätestens der Lehre“.

Draußen: Das Viertel, in dem der Pflegewohnstift Hönow 1 liegt, ist sauber und ordentlich und besteht ausschließlich aus Neubauten („Alles ist in den letzten sechs oder sieben Jahren entstanden“). Einfamilienhäuser in Pastellfarben, vor dem Pflegewohnstift sitzt eine alte Dame in ihrem Rollstuhl und sonnt sich, im Garten dahinter stehen Hochbeete („Als Beschäftigungstherapie sozusagen: Alle sagen am Anfang ‚Hurra, hurra!‘, und dann findet keiner mehr den Wasserschlauch zum Gießen“) und eine Pergola, wo Mike oft sitzt, um zu rauchen.

Drin: Mike hat ein Zimmer im Erdgeschoss mit großem Bad. Das edle Geschirr im Eckglasschrank hat sein Vater bemalt; auch die Ölgemälde mit Blumen und Landschaften stammen von ihm. In den Schränken: viele Erinnerungen aus Bayern, Bierkrüge und Fotos aus alten Zeiten – als Mike mit seinem weißen Bart als Nikolaus auftrat („39 Jahre lang, immer im selben Kindergarten in Gernlinden“). Nicht weit vom Bett ein großer Fernseher und ein kleiner Computer.

Was macht er? Seit viereinhalb Jahren ist Mike – unfreiwillig – Rentner: „Man hat halt nichts zu tun, das ist das Schlimme.“ Wegen des Rollstuhls ist er sehr eingeschränkt, untätig trotzdem nicht. Vor zwei Jahren, kurz nachdem er in den Pflegewohnstift einzog, wurde er in seiner Abwesenheit als Vorsitzender des Bewohnerrats gewählt: „Sie haben keinen anderen Deppen gefunden.“ Am Anfang habe er gedacht, etwas bewegen zu können, „aber es ist einfacher, einen Elefanten zu dressieren: Ich habe das Gefühl, Veränderungen sind gar nicht gewollt.“ Im Sommer stehen die Neuwahlen an, er will sich dann verabschieden.

Was denkt er? Momentan beschäftigt ihn seine Gesundheit: „Alles fing 2011 mit einer Erkältung an. Dann bin ich umgefallen, plötzlich waren die Füße weg.“ Er ließ sich in die Charité bringen, dort stellten die Ärzte eine Entzündung im Rückenmark fest, das Nervensystem war angegriffen. „Nicht wegen der Entzündung, sondern – wie nach vielen Untersuchungen festgestellt wurde – weil ein Kleinkarzinom in der Lunge diagnostiziert wurde“, sagt er. Seither ist er querschnittsgelähmt, „plus die Hände.“ Er hat zwar nicht aufgehört zu rauchen, „aber ich habe es eingeschränkt“, und er sitzt im Rollstuhl. Weil er wissen will, wie sich seine Nerven regenerieren können, geht er bald wieder in die Charité, um umfangreiche Untersuchungen mit Strommessungen durchführen zu lassen. Die Hoffnung, dass es sich bessert, hat Mike „auf jeden Fall.“

Mike Schürer: Geboren am 18. September 1944 in München. Fünf Geschwister, der Vater Kunstmaler, die Mutter Hausfrau. Trotz Nachkriegszeit erinnert er sich an eine „sehr schöne Kindheit“. Nach der Volksschule wollte er eigentlich Schmied werden, musste aber eine Lehre im Radio- und Fernsehgeschäft der Familie machen, in dem schon seine Mutter während des Nationalsozialismus ihr „Haushaltsjahr“ absolviert hatte. 1964 ging er nach Westberlin und arbeitete bei einem Transportbetonwerk, später lernte er in München Tief- und Ingenieurbau. Irgendwann machte er sich selbstständig: „Ich bin grundsätzlich keiner, der sich rumkommandieren lässt.“ 1991 kehrte er nach Berlin zurück, dieses Mal in den Osten, und wurde Leiter der Niederlassung Berlin der Mecklenburger Bau-Union. Wenige Zeit später wurde das Kombinat geschlossen und er gekündigt: „Von der Treuhand, dieser Verbrecherorganisation! Die hat so ziemlich alle alten Firmen im Osten an Spekulanten verscheuert und den Rest stehen lassen.“ Damals, kurz nach der Wende, beobachtete er, wie „die Wessis sich aufgeführt haben: Ich hätte nie gedacht, dass es in der BRD so viele Schweine gab.“ Außerdem: „Die Wessis haben die Ossis total überfordert. Es hieß immer: ‚Die blöden Ossis können nichts‘, dabei habe ich noch viel mehr Wessis gekannt, die viel weniger konnten“. Erneut machte er sich selbstständig und arbeitete unter anderem für die Sprengberger Bau-Union, wo er seine Lebensgefährtin Gaby kennenlernte. Sie schloss sich seiner Firma an und verkaufte Fertigteilhäuser, er leitete Baustellen für Münchner Investoren.

Das erste Date: Als er Gaby 1994 zum ersten Mal sah, verhandelten sie in seinem Büro über einen Vertrag. Zwei Tage später trafen sie sich wieder, weil noch ein paar Fragen offen waren. „Dann sind wir irgendwie bei mir zu Hause gelandet“, sagt Mike. „Sie hat mir sofort gefallen, aber es war nichts mit Verlieben oder diesem Schnickschnack.“ Er glaubt, dass Gaby das auch so sieht, seitdem sind sie jedenfalls ein Paar. Aber immer mit getrennter Wohnung: „Sonst gibt es zu viele Reibereien, vor allem, wenn man zusammenarbeitet.“ Abends gingen sie zu ihm oder zu ihr oder jeder zu sich. Für Mike „das Beste, was ich raten kann“.

Heiraten? Haben Mike und Gaby beide schon hinter sich. Mike zweimal – die erste Ehe inklusive Trennung lief „ganz easy“, mit der zweiten Frau hat er keinen Kontakt mehr: „Es war der größte Fehler meines Lebens“, denn: „Meine Frau hat gesoffen.“ Beide Ehen blieben ohne Kinder.

Der Alltag: Gut durchorganisiert. Zwischen sieben und acht Uhr wird Mike geweckt und in einen Badestuhl gesetzt, er duscht selbst, klingelt dann eine „liebe Schwester“ an, die ihm beim Anziehen hilft. „Dann komme ich in den Rollstuhl, und es wird gefrühstückt.“ Immer das Gleiche seit einem Jahr: „Cornflakes mit Schokolade und Milch drüber und eine Tasse Kaffee.“ Danach geht er meistens in sein Zimmer und schaut fern. „Es gibt zwar Back-, Koch- und Bastelgruppen, aber ich kann nur schlecht mitmachen wegen meinen Händen“, bedauert er. Schon vor zwölf gibt es Mittagessen („sehr abwechslungsreich“), danach einen Mittagsschlaf, um 15 Uhr Kaffee und Kuchen. „Dann schlägt man wieder den Tag tot“, sagt Mike, der außer Gaby, die im Schnitt jeden zweiten Tag vorbeischaut, wenig Besuch bekommt. Um 18 Uhr gibt es Abendbrot, „Suppe und Butterbrot mit Käse und Wurst“, dann schaut er wieder fern und um 21.30 Uhr hilft ihm eine Schwester beim Ausziehen, „ab in die Kiste“. Trotz der Ausflüge von Zeit zu Zeit findet Mike das „ziemlich langweilig“.

Wie finden Sie Merkel? „Ein Stasi-Kotzbrocken“ ist die Kanzlerin für Mike, der daran erinnert, dass sie bei den Jugendpionieren und der FDJ war. Er würde gern mal im Stasi-Archiv ihre Akte sehen – anders kann er sich nicht erklären, wie die Tochter einer Pfarrerfamilie aus dem Westen es so weit gebracht hat. Auch ihre politische Karriere schont er nicht: „Sie ist ein machtgeiles Vieh, jeder, der nicht in ihrer Spur mitläuft, ist weg vom Fenster.“

Wann sind Sie glücklich? Allgemein sei er zufrieden, aber glücklich? „Ich hab mal davon gehört.“ Dann erwähnt er doch schöne Momente: Wenn er es schafft, ein paar Schritte zu gehen. Oder das Musical neulich im Friedrichstadt-Palast.

Nächstes Mal treffen wir Ursula, Friederike und Adrian am Rande des Nochtener Tagebaus. Sie wollen auch besucht werden? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de