: Alles Psycho, oder was?
Die Arbeitslosenzahlen sinken, es geht aufwärts. Doch nicht jeder profitiert. Leiharbeit boomt, Langzeitarbeitslose abgehängt
VON BARBARA DRIBBUSCH
So ganz kann man die Sache ja nicht erklären. Und überhaupt „muss sich erst mal herausstellen, ob der Aufschwung Bestand hat“, sagt Holger Schäfer, Sprecher beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). „Vorrangig ist das eine Frage der Psychologie“, meint Eberhard Vogt, Sprecher des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW).
Ausgerechnet in der zahlenbeschwerten Wirtschaft regieren derzeit psychologische Erklärungsmodelle. Klar ist: Die Arbeitslosenzahlen sind im Oktober so nahe an die 4-Millionen-Grenze gerutscht wie schon seit vier Jahren nicht mehr. Die 10-Prozent-Marke bei der Arbeitslosenquote wurde im Oktober erstmals seit vier Jahren wieder unterschritten. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, gewissermaßen das Allerheiligste des Arbeitsmarktes, ist nach den jüngsten Zahlen von August im Vergleich zum Vorjahresmonat um 1 Prozent gestiegen.
Wie erwartet, vereinnahmen die Politiker den Aufwärtstrend, als hätten sie ihn selbst bewirkt. „Der Durchbruch ist da“, verkündete gestern Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD). „Wir sind auf dem richtigen Weg“, erklärte Ralf Brauksiepe, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der Union – ungeachtet der Tatsache, dass ein klarer Anteil der Politik nicht zu erkennen ist.
Vor allem die Mittelständler und nicht die Großkonzerne schaffen neue Jobs, sagt Vogt mit Verweis auf die Statistiken. Sogar bei Bauunternehmen würden neue Leute eingestellt. „Seit einigen Monaten beobachten wir eine optimistisch-freundliche Grundstimmung.“
Die Erfolge der exportorientierten Wirtschaft in den vergangenen Jahren übertrage sich jetzt auch auf die binnenwirtschaftlichen Unternehmen, erklärt Schäfer vom IW. Doch man müsse sich „von der Vorstellung verabschieden, dass es für jede Bewegung eine Erklärung gebe“.
Also doch alles eine Frage der Stimmung? Im September hat die Erwerbstätigkeit gegenüber dem Vorjahresmonat um 334.000 Menschen zugenommen. Das sind bei 39,5 Millionen Erwerbstätigen zwar weniger als 1 Prozent plus – aber dies reicht schon für eine „Trendumkehr“.
Im Verkehr- und der Nachrichtenübermittlung, im Gesundheits- und Sozialwesen hat die Beschäftigung zugenommen, in der öffentlichen Verwaltung ist sie hingegen gesunken, ergibt sich aus dem aktuellen Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit (BA). Hinter den Stellenstatistiken verbergen sich strukturelle Veränderungen.
Der Anstieg sozialversicherungspflichtiger Jobs beruhe nämlich „vor allem auf einem kräftigen Aufwuchs sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei unternehmensnahen Dienstleistungen, der wiederum zu einem größeren Teil von Arbeitnehmerüberlassung getragen wird“, heißt es im BA-Monatsbericht. Ein Schlüssel zur Erklärung der Zunahme ist also die Zeitarbeit. Darunter fallen Leiharbeiter, egal ob sie Metallteile montieren, Rinder ausbeinen oder Kreditkunden beraten. Denn Leiharbeit läuft statistisch unter „unternehmensnaher Dienstleistung“, unabhängig von der konkreten Tätigkeit der Beschäftigten.
Wenn Banken also ihre Beschäftigungszahlen abbauen und dann über Zeitarbeitsfirmen neue, flexible und billigere Finanzexperten rekrutieren, erscheint dies bei der BA unter „Beschäftigungsverluste“ im „Kredit- und Versicherungsgewerbe“. Das Zeitarbeitsunternehmen Randstad hingegen suche derzeit „Experten für Banken und Versicherungen“, erklärt Petra Timm, Sprecherin der Zeitarbeitsfirma Randstad.
Der Bundesverband Zeitarbeit zählte im vergangenen Jahr im Jahresdurchschnitt 375.000 Stellen, im Vergleich zum Vorjahr war dies immerhin eine Zunahme um 52.000 Jobber. Von Randstad werden derzeit händeringend Ingenieure gesucht, die projektgebunden bei Firmen einsteigen können, berichtet Timm.
Das „Matching“, nämlich für die Nachfrage der Unternehmer genau passende Arbeitskräfte zu finden, gestaltet sich in einer komplexen Wirtschaft zunehmend schwieriger. Die Firmen suchen für spezialisierte Tätigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort neue Leute – doch genau das hat oft wenig mit den Menschen zu tun, die bei den Arbeitsagenturen in der Kartei stehen, die örtlich gebunden sind und deren Qualifikation veraltet ist. „Dieser Graben ist tiefer geworden“, sagt Schäfer.
Fast kann man schon von zwei Klassen von Arbeitslosen sprechen, den Kurzzeiterwerbslosen, die Arbeitslosengeld I beziehen, und den Langzeiterwerbslosen auf Hartz IV beziehungsweise Arbeitslosengeld II. Die Zahl in der ersten Gruppe ist laut BA im Oktober im Vergleich zum Vorjahresmonat um 20 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen hingegen nur um 4 Prozent.
Bei Prognosen ist jedenfalls immer Vorsicht geboten. Schon zu Zeiten der rot-grünen Regierung und der New Economy um das Jahr 2000 hatten sich die Arbeitslosenzahlen nach unten entwickelt, um danach wieder anzusteigen.