: Zeit der Verwirrung
Was kann die neue Boheme von der alten Boheme lernen? Das zeigen die Tagebücher des legendären Dandys Oskar A. H. Schmitz aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende
Die Boheme erlebt eine seltsame Wiederauferstehung. In Zeiten von verlängerter Jugend, schlechter Jobaussichten und der Ausweitung der halb- und informellen Ökonomie mit ihren brummenden Quartieren aus Kneipen, Internetschuppen, Galerien und dem Hangeln von Projekt zu Projekt ist eine Art moderner Boheme plötzlich wieder da: der Typus des metropolitanen Twenty- und Thirtysomethings – mit irgendetwas beschäftigt, unterbezahlt, aber nicht unglücklich; prekär, aber selbstbestimmt.
Was die „neue Boheme“ von der „alten Boheme“ freilich unterscheidet: Die Urfigur des Bohemiens stilisierte sich, mit einem guten Schuss Rebellentum und mehr als einer Prise Dandyness, zur Gegengestalt des Wirtschaftsbürgers. Sie galt als Outcast, dem es an Fleiß und Leistungswillen fehlt.
Die heutige Boheme ist dagegen die Idealfigur des flexiblen Kapitalismus – agil, jederzeit änderungsbereit, ohne Sicherheitsbedürfnis, geradezu geschaffen für die grassierenden deregulierten Arbeitsverhältnisse. Schon ist im Standortmarketing der Großstädte wie selbstverständlich vom „Wirtschaftsfaktor Boheme“ die Rede. Wie die alte Boheme ist auch die neue ein Milieu des Übergangs, das sich dann ausbreitet, wenn das Alte überlebt ist und etwas Neues entsteht, ohne dass man schon genau weiß, was daraus wird.
Die Tagebücher des deutschen Schriftstellers Oskar A. H. Schmitz, gehoben aus den antiquarischen Tiefen des Marburger Literaturarchivs, erlauben nun einen faszinierenden Blick in die Welt der frühen Boheme. Schmitz, eine seltsame Figur, befreundet mit Thomas Mann, in der engeren Umlaufbahn des Stefan-George-Kreises, gepriesen von Hugo von Hofmannsthal, war um die vorletzte Jahrhundertwende eine große Nummer. Ein „sympathischer, hell und bewegt redender, gescheiter Kerl“ (Thomas Mann), der Gedichte schrieb, eine Benjamin-Disraeli-Biografie verfasste, zudem Reiseberichte, kleine Abhandlungen und ein Buch über Haschisch. Der sich für alles Neue interessierte, seine Zeit aufsaugte, Weltmann, polyglott, selbstbewusst.
Ein bisschen aristokratische Allüren, ein bisschen Snobismus, ein bisschen Reaktionär, ein bisschen Revolutionär, driftete er durchs Leben, fegte er durch die Schwabinger Szene in München und die Nächte am Pariser Montmartre. Ein kluger, wacher Beobachter, schrieb er auch viel haarsträubenden Unsinn, er interessierte sich für den Wandel der Sitten ebenso wie für neue okkulte Praktiken. Kurt Tucholsky beschrieb ihn als jemanden, „der sich unverblümt mit den unglaublichsten Ansichten hervorwagt“. Sein Liebesleben war sagenhaft bewegt. Er lebte in einer Welt, in der die jungen Frauen schon aus der behüteten Welt der Familie ausbrachen, eine Welt, in der wirklich emanzipierte Frauen selbst Boheme-Männer aus der Fassung brachten – und die das, anders als heute, nicht einmal verschwiegen.
Sehr fasziniert war er auch von der Halbwelt. Schmitz war, kurzum, rührend modern und erschütternd altmodisch zugleich. In den Tagebüchern kann man eintauchen in die Abenteuer, die diese Zeit bereitstellte, auch dank der Beobachtungsgabe des Autors. So kann er in wenigen Sätzen ein Mädchen skizzieren, „welches aussah, als wäre es ohne Mund geboren und als habe man später mit einem dünnen Messer eine kleine kurze Spalte in das Fleisch geritzt“, und ein paar Seiten weiter bekunden, er liebe das Einfach-Animalische und das Verfeinerte gleichermaßen, „nie das Mittlere“. Der erste Band behandelt die Jahre 1896 bis 1906, insgesamt ist die Ausgabe auf drei Bände angelegt.
Was an Schmitz’ Betrachtungen fasziniert, ist freilich nicht ihre Klarheit, sondern im Gegenteil ihre Verwirrtheit. Man sieht retrospektiv deutlich, wie eine rasante Zeit die Zeitgenossen hin und her beutelt. Auch das hat die neue Boheme mit der alten gemein – diese quälende Identitätssuche, den Mangel an Orientierungen, die Zweifel, ob das richtige Leben nicht das falsche ist.
ROBERT MISIK
Oskar A. H. Schmitz: „Das wilde Leben der Boheme. Tagebücher 1896–1906“. Aufbau Verlag, Berlin 2006, 541 Seiten, 58 Euro