Die Sprache der Schatten der Seele

Ralf Rothmann bevölkert subtile Geschichten mit einem oft gar nicht so subtilem Personal – der Erzählungsband „Rehe am Meer“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Ein Urlaub in Ostdeutschland. Ein junges Paar mit Kleinkind, das ein Haus gemietet hat. Deren eigentliche Bewohner, Mutter und Sohn (der Vater ist tot oder sonst wo), wohnen währenddessen im Wohnwagen im Garten. Die Urlauberin hasst den Sohn. Der Sohn betrachtet die Gäste als Eindringlinge, nicht zu Unrecht. Und trotzdem nähert man sich an, insgesamt. Oder vielleicht auch nicht. Die Frau geht mit dem Jungen ans Wasser; anschließend führt er sie zum Wohnwagen; im Gras davor der Gürtel eines Morgenmantels – und die Joggingschuhe ihres Mannes. Ende.

Man muss gut aufpassen, wenn man Ralf Rothmanns Erzählungen liest, sonst hat man am Schluss etwas verpasst, vielleicht sogar das Entscheidende. Subtil sind diese Texte gebaut, aber leicht wird man davon getäuscht, dass das Personal, das sie bevölkert, nicht immer ebenso subtil ist. „Rehe am Meer“ versammelt zwölf Geschichten, die sozusagen mitten im Alltag entspringen und ebendort ihre verblüffend poetischen Momente entfalten; keine gezierte Kunstprosa, sondern gekonnte Miniaturen mit novellistischem Charakter, die nicht selten in einer beinahe unmerklichen, persönlichen Verwirrung enden. Oder sollte man das bereits Katastrophe nennen?

Das Milieu, aus dem Rothmann seinen Stoff schöpft, ist bereits aus den Romanen bekannt – Arbeiter sind es, Handwerker, alte Menschen, alleinstehende Mütter. Das Leben ist etwas, was zu bewältigen ist. Wie es gelingen kann, dieses Ambiente zu transzendieren, zum Schweben zu bringen, haben Romane wie „Stier“, „Wäldernacht“ oder zuletzt „Junges Licht“ gezeigt, in denen der im Ruhrgebiet aufgewachsene Rothmann die Schwärze der Kohlebergwerke, die scheinbare Tristesse der Sechziger- und Siebzigerjahre, die Sprödigkeit einer darin eingebetteten Existenz in eine geradezu funkelnde Sprache transportiert hat. Wie schwierig es tatsächlich ist, ein solches Konzept durchzuhalten, zeigte der Roman „Hitze“; er driftete in den Kitsch ab. Nun also wieder Erzählungen, nach „Ein Winter unter Hirschen“ dieses Mal „Rehe am Meer“; nicht Rothmanns bestes Buch, aber dennoch ein sehr gutes. Und nicht zufällig kommen in den Titeln beider Erzählungsbände Tiere vor – auch in den Geschichten tauchen sie immer wieder auf, als Symbole des Reinen und Unversehrten, aber auch der unvermittelt in der Welt zu entdeckenden Schönheit.

Was die Erzählungen auszeichnet, ist ihre Sinnlichkeit einerseits, wichtig dabei vor allem die Durchmischung verschiedener Wahrnehmungs- und Bewusstseinsebenen, und ihre konkrete Verankerung in der Wirklichkeit auf der anderen Seite. Aus dieser Anordnung entsteht eine Ambivalenz, die den vermeintlich sicheren, weil bekannten Boden, auf dem man sich als Leser zu bewegen glaubt, ins Wanken zu bringen vermag. Und es entsteht eine eindeutig charakteristische und unverwechselbare Tonart zwischen Jargon, Umgangssprache und scheinbar kühler äußerlicher Beschreibung, die immer wieder durchbrochen wird: Unter der Oberfläche gärt bei Rothmann eine Leidenschaft, die vielen jungen deutschen Erzählern der Gegenwart, die, willentlich oder nicht, noch immer in der Nachfolge Judith Hermanns schreiben, in eiskalter, blutleerer Langweile also, vollkommen abgeht. Im Gegensatz dazu sind die Texte in „Rehe am Meer“ einfühlsam (nicht zu verwechseln mit sentimental), so als sei nur eine dünne Membran zwischen dem Erzähler und seinen Figuren, die nach jeder Seite hin durchlässig bleiben muss; sie sind elegisch, aber nicht trist, weil es eine Hoffnung gibt, unter anderem in der Sprache selbst.

Eine Frau, deren Mann in der Nacht zuvor gestorben ist und der noch in der Wohnung liegt. Zu gelähmt ist sie noch, um irgendetwas zu unternehmen; sie wartet auf Hilfe – und plötzlich klingelt es an der Tür und es kommt zu einer überraschenden erfreulichen Begegnung mit einem Heizungsmonteur. Oder die Studentin, die die Wohnung einer Kollegin übernimmt und eines Tages einen braunen Fleck an der Decke bemerkt. Als die Hausmeister irgendwann die vollkommen zugeschimmelte und zugemüllte Wohnung über ihr entrümpeln, müssen sie die Leiche der Mieterin gleich mit entsorgen – „unser Gabilein … der tut nix mehr weh. Nicht mal aufheben konnte man die mit der Schippe in den Sarg.“ – „Die Schatten der Seele“ heißt die Erzählung, nicht ganz pathosfrei. Darum geht es hier, immer. Und Ralf Rothmann ist ziemlich groß darin, von ihnen zu erzählen.

Ralf Rothmann: „Rehe am Meer“. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 214 Seiten, 19,80 Euro