Erzählungen vom Ernstfall

ERFAHRUNGEN Ein großes Geschenk an alle Nachgeborenen: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff erinnert sich an den Zweiten Weltkrieg – das Hörbuch „Schau dir das an, das ist der Krieg“

VON DIRK KNIPPHALS

Auf dem Cover kann man die erste Hauptfigur dieses Hörbuchs sehen: ein junger Mann, fast noch Jugendlicher mit hohen Wangenknochen und kräftiger Nase, der in einer etwas zu groß wirkenden Uniform steckt und scheu in die Kamera lächelt. Das ist Dieter Wellershoff, wie er sich, 1925 geboren, als 17-Jähriger zur Wehrmachts-Division „Hermann Göring“ gemeldet hat. Seine Erlebnisse werden hier erzählt.

Die zweite Hauptfigur des Hörbuchs ist sehr zurückgenommen, aber in der Stimme des Erzählers kann man sie deutlich wahrnehmen. Das ist der heute 85-jährige Schriftsteller Dieter Wellershoff, der sich hier an seine Zeit als Soldat erinnert. Es ist diese Stimme, die dieses Hörbuch zu etwas ganz Besonderem macht. Die Erlebnisse des jungen Soldaten wurden, so schrecklich sie auch waren und in was für einen unfassbar furchtbaren Kontext von Weltkrieg und Holocaust sie auch eingebettet waren, millionenfach erlebt. Der Ton des redlichen Befragens der eigenen Erinnerungen, den diese so gar nicht beschwörende oder entschuldigende oder gefallen wollende Stimme hat, haftet aber ganz individuell an der Person Dieter Wellershoffs.

Aufgeschrieben hat der Autor seine Kriegserlebnisse schon Mitte der neunziger Jahre in seinem autobiografischen Buch „Der Ernstfall“, bis heute das unverstellteste Erinnerungsbuch von Kriegsteilnehmern, das die deutsche Nachkriegsliteratur kennt. An den zentralen Kapiteln dieses Buches hangeln sich jetzt auch die mündlich erzählten Erinnerungen entlang.

Die militärische Ausbildung. Die Dienstzeit in der Reichshauptstadt Berlin. Dann die Verlegung an die Ostfront, während auf der Gegenfahrbahn die Verwundeten der gerade geschlagenen Heeresgruppe Mitte zurücktransportiert werden. Dann die ersten Feuergefechte, die ersten Verwundeten, die ersten Toten. Dann die eigene Verwundung, ein Granatsplitter bohrt sich in Dieter Wellershoffs Oberschenkel. Zurücktransport mit der Bahn, Operation und Genesung in dem zur Lazarettstadt umfunktionierten Kurort Bad Reichenhall. Weitere Kriegserlebnisse, Kriegsende, Episoden von Flucht, Gefangenschaft und Rückkehr.

Der mündliche Vortrag bringt nun eine entscheidende Ebene hinzu. Dieter Wellershoff liest nicht ab, wir erleben ihn tatsächlich im Moment des Erinnerns. Das Hörbuch wirkt, als habe ihn jemand gefragt, was er im Krieg erlebt habe – und dann während der dreieinhalbstündigen Antwort schlicht das Band laufen lassen (wie man hört, ist es in etwa auch tatsächlich so gewesen; dieser Jemand war der unter Konzeption/Regie firmierende Thomas Böhm, dessen Klugheit, so wenig wie möglich in den Erinnerungsstrom einzugreifen, gar nicht genug zu loben ist).

Man staunt beim Zuhören darüber, wie nah dem 85-Jährigen die über 65 Jahre zurückliegenden Ereignisse noch sind – an Namen, Details und Daten kann er sich genau erinnern –, und zugleich darüber, wie fremd und reflektiert er zu berichten versteht. Den titelgebenden Selbstauftrag „Schau dir das an, das ist der Krieg“ hatte sich der junge Soldat Wellershoff damals schon selbst gegeben. Und jetzt, zwei Generationen später, kann er die Selbstpanzerungen und das Wegdrängen jeglicher Emotionen, die mit dem Soldatsein seiner jungen Jahre verbunden waren, selbstverständlich benennen. Erstaunlich auch, wie wenig Wellershoff der Versuchung nachgeben muss, die Schrecken des Krieges in 3-D auszumalen, und wie genau er bei dem bleiben kann, was er wirklich aus eigener Anschauung weiß.

So unmittelbar die Stimme Dieter Wellershoffs bei alledem wirkt, so ist Authentizität nicht der einzige, wahrscheinlich noch nicht einmal der wichtigste Aspekt. Dass dieses Hörbuch so gut gelingen kann, liegt vor allem wohl daran, dass Dieter Wellershoff seine Erfahrungen ein ganzes Autorenleben lang durchgearbeitet hat. Die Erfahrung, nur noch durch Zufall am Leben zu sein, durchzieht alle seine Romane; die Lebensentwürfe seiner Hauptfiguren werden in ihnen als stets gefährdete Experimente des Lebens beschrieben.

Dieses Hörbuch ist ein Geschenk an alle Nachgeborenen.

■ Dieter Wellershoff: „Schau dir das an, das ist der Krieg“. Supposé, Berlin 2010. 3 CDs, 29,95 Euro