: Hin und weg
PERSONAL Wer vertritt die Nordlichter im Europaparlament? Wer scheidet aus, wer bewirbt sich neu? Ein Überblick zum Europawahlkampf ➤ Schwerpunkt SEITE 44, 45
Nichts dürfte schöner sein für Rebecca Harms, neben Daniel Cohn-Bendit Chefin der Grünenfraktion im Europaparlament, als in Niedersachsen noch einmal Wahlkampf zu machen wie 2002 – also direkt gegen David McAllister. Damals war sie grüne Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl, er Nummer zwei der Niedersachsen-CDU hinter Christian Wulff. Sie galt als Auslaufmodell. Er war allen der „Coming Man“.
Zwölf Jahre später ist es umgekehrt: Niedersachsens Ex-MP tritt auf wie ein Versorgungsfall. Und die Spitzen-Grüne erweckt durch ihren kenntnisreichen und in der Sache klaren Auftritt den Eindruck, sie sei 20 Jahre jünger, also energetischer und kämpferischer als der EU-Novize.
Das war so nicht zu erwarten. Denn im Europaparlament, wo Plenardebatten weniger wichtig sind, hatte sich Harms einen mitunter fast transusigen Tonfall angewöhnt. Den aber hat sie nun pünktlich zur Wahlkampagne überwunden, wohl auch, weil sie um ihre Spitzenposition hat kämpfen müssen: Reinhard Bütikofer, Vorsitzender der European Green Party, hatte eine europaweites Voting durchgeboxt, bei dem Inhaber von IP-Adressen, die zugleich ein Smartphone besitzen, entscheiden sollten, wer sich als Öko-KommissionspräsidentenkandidatIn eignet.
An den technischen Hürden dieser „Primaries“ scheiterten auch diverse Vorstandsmitglieder, insgesamt kam es zu 20.000 Stimmabgaben. Die meisten erhielt die migrationspolitisch klare, aber in öko- und handelspolitischen Sachfragen oft schwammige Ska Keller, ebenfalls Deutsche. Ganz im Sinne Bütikofers. Nicht geplant war, dass seine Feindin Harms dann die 32-Jährige beim Nominierungsparteitag besiegt und er in den Status einer unerträglichen Altlast versetzt wird, also auch offiziell.
Es lag auch an Harms Rede. Die stellte klar: Hier tritt eine Frau an, die als Gorleben-Veteranin mit großer Kompetenz urgrüne Themen inkarniert, und die als unzweideutige Gegnerin des Freihandelsabkommens TTIP sowie als Kennerin des Kiew-Moskau-Konflikts erkennbare und informierte Positionen vertritt. Und: Die dafür streiten kann. Das mag polarisieren. Aber das tun echte Überzeugungen immer. BES
Es soll, eigentlich, seine zweite und letzte Amtszeit im Europaparlament werden. Weil: Jan Philipp Albrecht, 31, will nochmal was anderes im Leben machen. Dabei hätte der Grüne beste Karten für eine lange Politikerkarriere.
Seine Partei wählte ihn jüngst mit einem fast nordkoreanischen Ergebnis auf Platz 6 der Liste zur Europawahl, der Wiedereinzug ist ihm also sehr sicher. 2009 kam Albrecht als jüngster deutscher Abgeordneter ins Europaparlament – dort indes hat das Label weniger Bedeutung als in den Medien. In denen findet Albrecht, der ein pragmatischer Linker ist, heute auch so Gehör. Vor allem, wenn von Datenschutz und Netzpolitik die Rede ist. Die ersten Male, als sie ihn einen Experten für Innen- und Justizpolitik nannten, sei das „ein Anspruch“ gewesen, sagt Albrecht. Heute könne er ihn erfüllen.
Die Zeit nannte ihn „Mister Anti-Swift“, weil er von Anfang an ein entschiedener Gegner des Swift-Abkommens der EU mit Amerika war, bei dem es um die Weitergabe von Bankdaten zur „Terrorbekämpfung“ ging. Und die Frankfurter Allgemeine kürte ihn zum „Zuckerbergbesieger“, weil er gegen Facebook und Google für ein Recht auf Vergessenwerden im Internet kämpft – und dabei Teilerfolge erzielte. Und auch bei der Ablehnung des Anti-Produktpiraterie-Abkommens Acta im EU-Parlament war Albrecht ganz vorn dran. „Ein großer Moment“, sagt er. Jetzt hofft er, dass auch das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP noch zu Fall gebracht werden kann. Auch deswegen tritt er wieder an. Und weil er für einen neuen EU-Konvent werben will, für eine Demokratisierung der EU, für die Mitspracherechte der Verbraucher, für eine „Identifizierung“ der Menschen mit „dem europäischen Projekt“ – in Zeiten, in denen der alte Nationalstaat wieder aufflammt.
Albrecht, in Braunschweig geboren, in Wolfenbüttel groß geworden, hat an den Unis von Hannover und Oslo Jura studiert. Er wohnt in Hamburg-Altona, wenn er nicht in Brüssel oder Straßburg ist, und hat einen deutschen sowie einen französischen Pass. Bei den Grünen ist er für Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zuständig. Und dafür, das alte Vorurteil zu widerlegen: Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa.
Ob er wirklich nicht ein drittes Mal kandidiert? Doch, sagt Albrecht, das sei „ziemlich wahrscheinlich“. MNZ
David McAllister fremdelt. Im Niedersachsen-Wahlkampf war er noch ein richtiger Motor, einer, der wie wild drauflos menschelte, mit den Presse-Buddys rumkumpelte, dem Ömchen die Hand schüttelte und dem Opi mit Glühwein zuprostete. Das war seine Stärke, sein größtes Talent, er traf den Ton und hatte ein gutes Gespür, was die Leutchen bewegt.
Im Europawahlkampf ist davon nichts zu merken. Dabei hatte er sich mit viel Energie reingestürzt ins Getümmel, einen Terminplan, so als wollte er bis zum 25. 5. garantiert jeden Dorfstammtisch in der Lüneburger Heide besucht haben. Aber wer seine Auftritte selbst in seinem eigenen Bundesland beobachtet, erlebt Niedersachsens Kurzzeit-Ministerpräsidenten in kompletter Verunsicherung.
Die konnte man bei ihm auch sonst schon mit spontanen Fragen auslösen, die noch nicht mal sonderlich konfrontativ sein mussten. Ein schönes Beispiel dafür war ein Talk mit Markus Lanz im Sommer 2012, wo dessen Puddingfragen McAllisters Züge immer wieder kurzzeitig petrifizierten – fast schon unheimlich, man kann sich das auf Youtube gern noch mal anschauen. Und dann kommt irgendeine absolut nichtssagende Floskel.
Dasselbe Bild jetzt bei allen Europa-Fragen. Dazu hat er exakt null Ideen. Das Europaparlament sei kein Debattierclub, sagt er. Die Leute sollten unbedingt wählen, empfiehlt er. Zum umstrittenen transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP fällt ihm ein, Sorgfalt gehe vor Eile. Im Ukraine-Konflikt erklärt er Russland zum „Teil des Problems, aber auch seiner Lösung“.
Am schlimmsten wird’s, wenn er neben dem witzelnden Letzeburger Jean-Claude Juncker rumsteht, der sich locker über Skripts und Absprachen hinwegsetzt. Und erst recht übers CDU-Wahlprogramm: „Überall sollös einön Mindöstlohn gébène!“, schmettert Juncker in der Lounge des Braunschweiger Eintrachtstadions. Applaus setzt ein, wie bestellt.
Und der vom Parteivorstand zum Spitzenkandidat der Bundes-CDU ernannte McAllister – schaut. Lächelt bemüht. Klatscht dann mechanisch mit. Vielleicht fragt er sich, was genau er da gerade macht – also, außer, zu hoffen, dass es bald vorbei ist. BES
Seine schlimmsten Niederlagen hat Knut Fleckenstein bereits hinter sich. 2004, bei seiner ersten Kandidatur für das Europaparlament, fiel der Hamburger Sozialdemokrat durch, kurz darauf wählte die SPD-Basis nicht ihn zum Landesvorsitzenden (und somit zum potenziellen Bürgermeisterkandidaten), sondern seinen Konkurrenten Mathias Petersen.
Doch einen Mann wie Knut Fleckenstein kann so etwas nicht aus der Bahn werfen. Jetzt kandidiert der 60-Jährige mit der sonoren Bassstimme erneut für das Europaparlament, dem er seit 2009 angehört. Und wo der gelernte Bankkaufmann bestens vernetzt und auch außerhalb der eigenen Fraktion hoch geschätzt ist.
Die Kooperation mit Russland und dem Baltikum liegt ihm am Herzen, seit er vor 25 Jahren als Europareferent in der Hamburger Senatskanzlei die Städtepartnerschaft mit St. Petersburg wieder auffrischte. Auf die Frage, was Hamburg und Russland verbinde, antwortet er gern: „Erstens rege Handelsbeziehungen, zweitens eine Städtepartnerschaft und drittens der EU-Abgeordnete Knut Fleckenstein“ – es ist nicht so, dass er unter mangelndem Selbstbewusstsein litte.
Als Beauftragter der Europa-Sozialisten für Hafenpolitik kämpft Fleckenstein gegen zu viel EU-Bürokratie und für die Freiheit von Schifffahrt und Handelsströmen. Nicht zuletzt ganz besonders für den Hamburger Hafen, der regelmäßiges Thema auf den „Hamburger Abenden“ ist, die der Rotweinliebhaber drei Mal pro Jahr in Brüssel veranstaltet. Und auch deshalb findet er die von Dänemark geplante Fehmarnbelt-Querung in der Ostsee super. Denn durch eine solche Schienen- und Straßenverbindung zwischen Hamburg und Kopenhagen werde, hofft Fleckenstein, „unser Hafenstandort noch attraktiver“. Männer wie er machen alles passend, was nicht von selbst passt.
Jetzt hat Fleckenstein gute Aussichten, für weitere fünf Jahre zwischen Brüssel und Straßburg pendeln zu dürfen. Und weiter darunter zu leiden, dass er in den sterilen EU-Büros nicht rauchen darf. Was er aber heimlich dennoch tut. SMV
Sie hat nahezu jeden Posten gehabt, den Hamburgs Christdemokraten zu vergeben hatten. Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten, selbst Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft und des Bundestags, stellvertretende CDU-Vorsitzende in der Hansestadt, deren Sozialsenatorin und Zweite Bürgermeisterin – Birgit Schnieber-Jastram hat viel erreicht für eine nicht-studierte Anzeigenblatt-Journalistin. Aber jetzt, kurz vor ihrem 68. Geburtstag, beendet sie nach fünf Jahren im Europaparlament ihre politische Laufbahn, und niemand wird es bemerken.
Die kleine Blonde ist zäh und zielstrebig, sonst hätte sie – vor allem in Hamburgs Altherren-CDU der 1980er-Jahre – nicht so eine lange und steile Karriere hinlegen können. Denn weder an ihren Inhalten noch an ihrer Rhetorik kann ihr Erfolg gelegen haben. So bleibt auch weitestgehend geheimnisumwölkt, was Schnieber-Jastram in Brüssel und Straßburg so bewirkte, selbst ihre Homepage („wird nicht mehr aktualisiert“, ist dort zu lesen) schweigt beredt.
Was die verheiratete Mutter zweier Kinder von 2001 bis 2008 im Hamburger Senat trieb, ist besser dokumentiert. Sie sprach nicht gern und ließ meist ihre Mitarbeiter reden, wenn es in der Bürgerschaft um die Kita-Politik oder die Missstände im geschlossenen Heim Feuerbergstraße ging. Das brachte ihr den Ruf ein, kalt, oft sogar ahnungslos und überfordert zu sein. Immerhin hat sie auf diese Weise sieben Jahre lang eine Mammutbehörde geleitet, dabei aber mehrere Sprecherinnen und einen Staatsrat zerschlissen. Der musste statt ihrer wegen der Skandale in der Feuerbergstraße gehen.
Schnieber-Jastram saß die Affäre aus und erzählt nun im Rückblick, das alles die Schuld des Koalitionspartners Ronald Schill gewesen sei. Dem Rechtspopulisten sei es aber nicht gelungen, den Ruf Hamburgs nachhaltig zu beschädigen.
Schaffte Schnieber-Jastram auch nicht, und das ist dankenswert. Nun, ohne Europa, freut sie sich „auf einen leeren Terminkalender“. Nicht wenige hätten ihr den schon vor über einem Jahrzehnt gewünscht. SMV
Uetersen, Wedel, Ascheberg – Britta Reimers tourt derzeit durch die Provinz und dokumentiert jeden Besuch mit Twitter-Meldungen und leicht unscharfen Handy-Fotos. Keine Frage, die Frau von der FDP, die seit 2009 im EU-Parlament sitzt, kämpft um ihren Sitz. Ob sie ihn angesichts der niedrigen Zustimmung für die Liberalen halten kann, ist unsicher.
Doch selbst wenn sie zurück nach Schleswig-Holstein müsste, hätte sie viel erreicht: Ausgerechnet in der Legislaturperiode, in der die EU versuchte, die Agrarpolitik der Gemeinschaft neu zu strukturieren, hat sie sich für eine „marktorientierte und unternehmerische Landwirtschaft“ eingesetzt – zugunsten der Großbetriebe und der konventionellen Landwirte.
Britta Reimers, geborene Tietje, wurde 1971 in Itzehoe im Kreis Steinburg geboren, wuchs auf dem Bauernhof ihrer Eltern auf und lernte selbst Landwirtschaft. Auch ihr Mann ist Landwirt, er baut Futtermittel an. Das Ehepaar lebt mit seinen zwei Kindern auf einem Hof im Kreis Steinburg. Logisch, dass Reimers in ihren Internetauftritten auf ländliche Motive – Kühe und Rapsfelder – setzt. Logisch auch, dass die Frau mit dem praktischen Kurzhaarschnitt ihre Fraktion in den Ausschüssen für Agrar-, Fischerei- und Lebensmittelsicherheit vertrat.
Agrarpolitik ist eines der Kernfelder der EU: Hier fließen die größten Summen. Vor einigen Jahren gab es zaghafte Versuche, das System umzusteuern – eine große Reform scheiterte. Sogar das sogenannte „Greening“, die Koppelung von Fördergeld an umweltgerechtes Wirtschaften, wurde vom mehrheitlich konservativen Parlament nur in einer aufgeweichten Fassung genehmigt.
Britta Reimers ist auch das noch zu viel. Dazu, dass Direktzahlungen für Großbetriebe neuerdings gedeckelt sind, sagt sie: „Es kann nicht sein, dass erfolgreich wirtschaftende Betriebe bestraft werden.“
Sie werde „alles Mögliche tun“, damit die FDP-Fraktion „zahlreich ins Parlament zurückkommt“, sagte sie in einem Interview. Gelingt es nicht, freut sich zu Hause die Feuerwehr: Dort ist Reimers aktives Mitglied. EST