: Dem Jazz einfach mal ein großes X vormachen
FESTIVAL Geballter Jazz in Kreuzberg an Orten, die sonst eine ganz andere Musik im Programm haben: XJazz bietet noch bis heute neue Gründe, mal ins Bi Nuu, in den Fluxbau oder den Privatclub zu gehen
Welches X soll es denn bitte sein? Ein Festival XJazz zu nennen gibt reichlich Anlass zum Grübeln. Steht das X doch für Geheimnisvolles („Akte X“), Unerklärliches (X-Men) oder schlicht für eine Unbekannte in einer Gleichung. Die Frage, was Jazz heutzutage ist, sein sollte oder könnte, erhitzt seit einiger Zeit wieder die Gemüter, insofern wäre die Option mit der Unbekannten gar nicht so verkehrt. Ein Festival als Frage: Was ist dieser mysteriöse Jazz eigentlich?
Seit Donnerstag kann man die vorläufigen Antworten bei XJazz anhören, einem neuen Festival, das in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich ist. Angefangen mit dem Ort im Allgemeinen – die Musik spielt in Kreuzberg, einem Stadtteil, in dem Jazz eher eine Randerscheinung ist. Das gilt auch für die Spielstätten im Besonderen, denn Bi Nuu, Monarch oder Privatclub haben sonst ganz andere Bands im Programm.
Die Perspektive erweitern
Die Frage, ob man so ein neues Festival überhaupt braucht und ob es anderen Berliner Festivals Konkurrenz macht, stellt sich aus dieser Perspektive erst einmal nicht. XJazz scheint sogar geeignet, ein Publikum für Jazz zu begeistern, das sonst wenig damit in Berührung kommt. Dazu gehört für die Veranstalter, dass der Zugang nicht unnötig erschwert wird. Im engeren Sinne Avantgardistisches oder Free Jazz bekommt man an den drei Festivaltagen kaum geboten.
Dafür wird Jazz hier ohnehin in erweiterter Perspektive gedacht – das X könnte man daher ebenso gut als Multiplikator oder XL lesen: Jazz ist bei XJazz mehr als „bloß“ Jazz im puristischen Sinne. Schon zur Eröffnung am Donnerstag wurde ein deutliches Zeichen gesetzt: Die isländische Pop-Elfe Emilíana Torrini gab ein in dieser Form wohl einmaliges Konzert im Bi Nuu mit dem eigens für ihren Auftritt zusammengestellten Ensemble X, bestehend aus Berliner Jazzmusikern, die Torrinis Songs in neuem Gewand präsentierten.
Streng genommen handelte es sich um eine Variante des in den neunziger Jahren beliebten „Unplugged“-Konzepts, bei dem Bands ihre elektrischen gegen akustische Instrumente eintauschten. Der Klarinettist Claudio Puntin, die Harfenistin Kathrin Pechlof und Festival-Kurator Sebastian Studnitzky an Trompete und Tasteninstrumenten verliehen den ätherisch-schlichten Songs wahlweise einen Folk-Jazz-Anstrich, ließen es verhalten psychedelisch rocken oder streuten Klezmer-Anleihen ein, wodurch der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit nicht ganz zu vermeiden war.
Groove muss sein
Konsequenter präsentierte sich im Privatclub das Quartett AdHd aus Reykjavík – Island ist zum Auftakt des Festivals Partner von XJazz –, das zurückgenommenen Indierock mit Bebop kreuzte und als späte Rehabilitierung des Prog-Rock ohne streberhaftes Virtuosengegniedel durchaus überzeugte. Auch das Berliner Melt Trio mischt auf höchstem Niveau verschiedene Rocktraditionen mit Jazz zu einer so konzentrierten wie unaufgeregt-dynamischen Meditation. Die völlig gleichberechtigt agierenden Brüder Peter Meyer (Gitarre) und Bernhard Meyer (Bass) wurden im Fluxbau von Schlagzeugstar Eric Schaefer unterstützt, der zuvor schon mit seinem Trio Das Kondensat wie selbstverständlich komplexe, mitunter sperrige Improvisationen zum Grooven brachte.
Groove ist eine der Klammern für die Zusammenstellung der Künstler. Heute, am letzten Festivaltag, etwa ist im Bi Nuu der britische Produzent George Evelyn alias Nightmares On Wax zu erleben, der sich seit den Neunzigern um HipHop und Downbeat verdient macht. Ebendort konzertiert die zwanzigköpfige Samúel Jón Samúelsson Big Band, deren historisch informierter Afrobeat vor Kraft und Funk nur so sprüht. Schöne Mischung. Schade nur, dass viele der Nichtstars „auf Kasse“ spielen müssen, also fast gratis. TIM CASPAR BOEHME
■ XJazz, bis heute, mehrere Orte. Info: xjazzfestival.wordpress.com