: Störung als Herausforderung
EXTREMBEREICHE Rainer Wieczorek ist ein hochmusikalischer Autor, was sich an Sprache und Komposition seiner „Tuba-Novelle“ beweist
VON JOCHEN SCHIMMANG
Rainer Wieczorek hat uns in seiner ersten von drei Künstlernovellen, „Zweite Stimme“, von einem Wolkenkünstler erzählt, der am Ende das einzig ihm angemessene Museum findet. In der nun erschienenen „Tuba-Novelle“ setzt er seine Erkundungen in den Extrembereichen der künstlerischen Produktion fort, auch diesmal wieder, das sei gleich vorweggesagt, zum äußersten Vergnügen des Lesers.
Es spricht der Künstler selbst, soll heißen, wir haben es mit einer Ich-Perspektive zu tun. Das Ich ist ein Schriftsteller, der ein neunmonatiges Aufenthaltsstipendium in einem nicht näher bezeichneten Ort dazu nutzen soll, einen Essay über Samuel Becketts Haus in Ussy an der Marne zu schreiben, jenes Refugium, in dem Beckett wirklich geschrieben hat, wozu er in Paris kaum noch gekommen ist.
So weit, so gut, Literaturförderung ist doch eine feine Sache. Und der Ich-Erzähler ist nicht allein besten Willens, sondern auch guten Mutes. Kein Faulenzer, der unsere Steuergelder verschwendet, sondern einer, der schon am ersten Tag seinen Arbeitsplatz eingerichtet und munter mit einem ersten Satz begonnen hat, der allerdings gleich wieder gestrichen und durch einen anderen ersten Satz ersetzt wird: man kennt das.
Gegenüber der Stipendienbehausung, die im Souterrain liegt – man denkt unwillkürlich an die Perspektive von Nagg und Nell in Becketts „Endspiel“, den Blick aus den Mülltonnen –, gegenüber also liegt das sogenannte Spanische Haus, und dort ist, wie sich am nächsten Tag herausstellt, ein Tubaspieler eingezogen, der, wie es sein Beruf erfordert, fleißig übt. Noch am Vorabend hatte der Essayist in James Knowlsons Beckett-Biografie die Seiten über die Störung gelesen, jenen Nachbarn, Monsieur Horviller, der das Land neben Becketts Haus in Ussy kaufte und dort eine Jagdhütte bauen ließ, eine Tatsache, die Beckett so empörte, dass er in Ussy selbst nie mehr einkaufte und dazu in den Nachbarort fuhr. Eine Jagdhütte ist stumm, ein übender Tubaspieler dagegen ist gerade auf größere Entfernung gut zu hören, was an den Eigenheiten des Instruments liegt. Nun hat auch der Essayist seinen Horviller in der Nachbarschaft, und die Störung ist da.
Um die Störung herum ist Wieczoreks Novelle aufgebaut. Der Autor begeht allerdings nicht den Fehler, daraus einen Klamauktext zu entwickeln und eine Kampfszene aufzubauen. Was folgt, ist gleichsam der stumme Dialog der Künste über die Straße hinweg, stumm nicht im akustischen Sinne, da die Tuba ja sehr gut hörbar ist, sondern insofern, als die beiden Künstler sich niemals persönlich begegnen. Je mehr der Tubaspieler in seinen Fertigkeiten voranschreitet, desto zurückgenommener wird der Essay des Protagonisten.
Denn dieser begreift die Störung als die Herausforderung, die seiner Arbeit erst ihren Rahmen gibt. „Ausharren“, heißt es an einer Stelle, „das musste möglich sein.“ Und einige Tage später begreift er: „Der Welt fehlte es wahrhaft nicht an Schreibenden, es mangelte ihr an Nichtschreibenden, genauer gesagt an solchen, die ihren Platz am Schreibtisch behaupteten, gerade dann, wenn es nicht weiterging.“
Und ein wenig später: „Nicht die Lage, sondern das Tempo hat sich verändert: das Tempo, in dem das Nichtfortschreiten fortschreitet.“ Schließlich wird sich der Essayist darüber klar, dass er gerade dabei ist, „eine Tradition ungeschriebener Beckett-Essays ins Leben zu rufen“.
Das ist natürlich dem Gegenstand seines Schreibens oder vielmehr seines Nichtschreibens so angemessen wie nichts sonst. In Knowlsons Biografie, auf die der Essayist sich neben anderer Sekundärliteratur stützt, wird unter anderem folgende Geschichte erzählt: Bei einer Rundfunklesung für die BBC, deren Produktion er begleitet hat, bat Beckett darum, den Text immer mehr zu reduzieren, „zu murmeln“, bis schließlich einer der Techniker sagte: „Wenn noch mehr gemurmelt wird, ist nichts mehr auf dem Band.“ Möglicherweise wollte Beckett genau dorthin. Wieczoreks Essayist jedenfalls ist in seinem Nichtschreiben der denkbar angemessenste Interpret eines Autors, der sich sein Leben lang aufs Verstummen zubewegte, ohne ganz verstummen zu können, und dessen Texte zum Beispiel „Um abermals zu enden“ oder „Schlecht gesehen, schlecht gesagt“ hießen.
Schließlich macht der Essayist sich Gedanken über ein Nachwort zu seinem praktisch nicht existenten Essay: „Es konnte wohl kein Zweifel bestehen, dass ein Nachwort im Verhältnis zu dem bisher Gewonnenen nicht zu voluminös ausfallen durfte, alles über zwei, drei Seiten Hinausgehende sprengte unweigerlich die Form …“
Außer dem großartigen Scheitern, das Beckett gewiss gefallen hätte, führt die Novelle noch einige andere Motive aus: das Motiv des Unpassenden, Querstehenden etwa, des Übersehenen und Marginalisierten, und schließlich den Ausblick auf die Zeit, wo einmal alles Kunst geworden sein wird. Der Dialog der Künste führt zu dem hübschen Einfall, dass unser Essayist sich selbst – nicht etwa eine Tuba, sondern nur ein Tubamundstück kauft, auf dem er „ein zartes Pianissimo, ein fast tonloses Rauschen“ bläst. Wieczorek ist ohne Zweifel ein hochmusikalischer Autor, was sich in der Sprache wie in der Komposition seiner Novelle abbildet. Diese ist selbst zuweilen ein zartes Pianissimo, wird aber durch eine andere Komponente ergänzt. Gegenüber dem ersten Teil der Trilogie steigert sich die dort mitschwingende Ironie hier zur Hochkomik. Es darf durchaus herzlich gelacht werden, ohne dass man sich als Banause fühlen müsste. Auch das entspricht natürlich ganz dem Geist Samuel Becketts.
Im kommenden Jahr wird die Trilogie mit der Novelle „Der Intendant kommt“ abgeschlossen. Wir warten schon jetzt auf ihn.
■ Rainer Wieczorek: „Tuba-Novelle“. Dittrich-Verlag, Berlin 2010. 119 Seiten, 16,80 Euro