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Archiv-Artikel

Der Riss im Raum

SKULPTUR Auge und Hirn sind gefordert in der Ausstellung „Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raums“ im Kunstmuseum Wolfsburg

Die Skulpturen funktionieren wie Spalten im Raum, durch die Unbekanntes hineinströmt

VON TOM MUSTROPH

Was ein neuer Ansatz alles bewirken kann: Die Wolfsburger Retrospektive „Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes“ überzeugt mit einer überraschenden Neuinterpretation des Spätwerks des wohl bedeutendsten, am teuersten gehandelten und am häufigsten gefälschten Bildhauers des 20. Jahrhunderts. Sie holt Giacometti aus der existentialistischen Ecke heraus und unterstreicht seine Bedeutung als Pionier der Erschaffung virtueller Räume.

Gleißendes weißes Licht breitet sich aus. Es erfüllt Kabinette von den Dimensionen ganzer Wohnungen, die in die große Halle des Kunstmuseums Wolfsburg gebaut sind. Der bleiche Partikelstrom scheint bis in die Unendlichkeit vorzudringen. Man fühlt sich versetzt in die spektakulären Lichträume von James Turrell, die im Frühjahr und Sommer das Kunsthaus in der Autostadt zu einem Mekka für all die werden ließen, die den Schauer erfahren wollten, die Turells Verschmelzung von Licht und Formen erzeugt. Gravierender Unterschied: Statt – wie bei Turrell – die Farbskala zu durchlaufen, bleibt das Licht jetzt monochrom weiß. „Wir haben uns bei der Planung dieser Ausstellung von Turrells Ganzfeld anregen lassen“, gibt Museumsdirektor Markus Brüderlin zu.

Vor Jahren schon, damals noch bei der Schweizer Fondation Beyeler als Chefkurator tätig, fiel Brüderlin die besondere räumliche Dimension von Giacomettis Plastiken auf. „Sie schaffen ihren eigenen Raum. Sie brauchen aber auch ihren eigenen Raum, um ihre Wirkung zu entfalten. Hier in Wolfsburg haben wir erstmals die Möglichkeiten, dies in einer Ausstellung zu realisieren“, sagt Brüderlin.

Im Leeren ruhen

Und so ist rings um den sich um seine eigene Achse drehenden „Taumelnden Mann“ ein zylinderförmiger Raum angelegt, der die Vektoren der Figur aufnimmt, durch sie gewissermaßen konstruiert ist, ihr aber auch zu einem Platz verhilft, um selbst schwingen zu können. Giacomettis Bemerkung: „Die Plastik ruht im Leeren. Man höhlt den Raum aus, um das Objekt zu konstruieren, und das Objekt schafft seinerseits einen Raum“, erfährt hier seine Übertragung vom Atelier in den Ausstellungsbereich.

Sakrale Wirkung hat die Platzierung der gerade einmal 11 Zentimeterhohen „Kleinen Büste auf doppeltem Sockel“ in einem der weißen Kabinette. Die Winzigkeit des schwarzen Objekts kontrastiert mit der Weite der Umgebung. Der derart fokussierte Blick macht glauben, selbst aus der Distanz jedes Detail akkurat erkennen zu können.

Ein Experiment zur Raumwahrnehmung organisiert Kurator Brüderlin auch mit der Anordnung einer 167 Zentimeter hohen „Stehenden Frau“ und der „Frau für Venedig III“, die lediglich 118 Zentimeter misst. Die größere der Figuren befindet sich vorn. Auge und Hirn bemühen sich, mal beide Frauen auf die gleiche Entfernung zu holen, lassen dann aber wieder die Distanz anwachsen. Der Raum pulsiert zwischen diesen Polen.

Giacomettis ausgedünnte schwarze Figuren sorgen noch für einen weiteren optischen Effekt: Sie scheinen Risse in einem homogenen Raum. Sie sind Spalten, durch die Unbekanntes hineinströmt. An Sartres – von Giacometti niemals bestätigter – Deutung der sich verzehrenden, zwischen Entschwinden und Erscheinen oszillierenden Figuren, die mehrere Jahrzehnte das Rezeptionsverhalten prägte, mag da niemand mehr denken.

Vektoren in Bronze

Brüderlins Raumthese erfährt durch Arbeiten, bei denen Raumvektoren sogar in Bronze gegossen sind – etwa „Der Käfig“ oder „Kleine Figur in einer Schachtel zwischen zwei Schachteln, die Häuser sind“ – zusätzliche Bestätigung. Auf einigen Leinwänden, die die Ausstellung beschließen, sind die Köpfe der Porträtierten von einer Aureole umgeben, die einer subtilen Form von Käfig gleicht.

Paola Caróla, in den 50er Jahren Modell für Giacometti und mittlerweile Vizepräsidentin der Fondation Alberto et Annette Giacometti (gleichzeitig größte Leihgeberin der Ausstellung), erinnerte sich praktischerweise daran, sich während der Sitzungen wie in einem Käfig gefühlt zu haben: „Wir saßen vielleicht zweieinhalb Meter voneinander entfernt. Giacometti war sehr nett, und er hatte eine unglaubliche Präsenz, aber es gab immer eine Distanz. Er gab mir meinen eigenen Raum.“

Als einen etwas übereifrigen indirekten Beweis dafür, dass Giacomettis Plastiken tatsächlich einen eigenen, am besten neutral weißen Raum benötigen, darf man die Skulpturengruppe „Plaza“ werten, in der eine schreitende und eine stehende Figur aufgestellt sind. Der unruhige Hintergrund solle an Manhattans Skyline erinnern, lautet die etwas überraschende Assoziation von Markus Brüderlin. Er will damit auf Giacomettis Projekt einer Skulpturengruppe im öffentlichen Raum vor der Chase Manhattan Bank aufmerksam machen. Giacometti selbst nahm nach einer Ortsbesichtigung in New York von der Idee Abstand. Zu chaotisch war die Umgebung.

„Der Ursprung des Raumes“ zeigt, dass all die Sammler, die „ihren“ Giacometti inmitten anderer Objekte platziert haben, dessen Wirkungspotenzial bei weitem nicht ausnutzen. Wer es ernst meint, muss die Ecken des White Cubes nun abrunden und weißes Licht in einen Hohlkehlenraum einströmen lassen. Viel Vergnügen beim Umbau.

■ Bis 6. März, Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog (Hatje Cantz) 38 Euro