: „Anständig“ töten
MORAL Dan Diner und Raphael Gross diskutierten im Berliner ICI über den Nationalsozialismus
In seiner berüchtigten Posener Rede sagte Heinrich Himmler im Jahr 1943 vor handverlesenen, mit dem Massenmord betrauten SS-Führern: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“
Tatsächlich hat diese merkwürdige Auffassung von „Anstand“ Eingang in die Geschichte gefunden, wenn auch anders als gedacht. Doch bis heute glauben etwa einfache Leute sowie ehemalige Bundeskanzler, dass wenigstens die Wehrmacht „anständig“ gehandelt hätte. Himmlers Posener Rede erklärt auch den Titel von Raphael Gross’ Buch „Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral“ (S. Fischer), über das der Autor, Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt und zugleich des Leo Baeck Institute in London, am Samstag mit Dan Diner, u. a. Direktor des Simon-Dubnow-Instituts, diskutierte. Das Berliner ICI, das zusammen mit dem Jüdischen Museum der Veranstalter war, forderte als akademisches Institut von der Diskussion ein hohes Niveau und bekam es. Umso erstaunlicher war, dass sich Diner und Gross selbst moderieren mussten, was zu einem etwas ungelenken Gesprächsablauf führte. Dies ist umso bedauerlicher, als Gross und Diner sich – obwohl sie sich duzen – wirklich streiten wollten.
Gross stützt sich auf Ernst Tugendhat bei der Entwicklung seiner These, dass im Nationalsozialismus in allen Schichten sowohl eine universell als auch eine nur partiell gültige Moral vorgeherrscht habe (einige moralische Kategorien waren in Bezug auf „Untermenschen“ ausgesetzt), wobei man bei der Beschreibung der partiellen Moral noch einmal genauer abstufen müsste: „Das hat auch Genderkomponenten.“ Diese Moral habe es den Tätern erlaubt, ihre Taten zu rechtfertigen, sie zu moralisieren – wie ja auch die nazistische Ideologie vor allem mit Moralbegriffen arbeitete. Zugleich sei die partikulare Moral auch ein Reflex auf den ideologisch abgelehnten „Universalismus des Judentums“ gewesen.
Diner jedoch sieht diese Partikularmoral sich – wenn überhaupt – erst nach dem Krieg entfalten. Als ein Beispiel dafür, dass sich die moralische Rechtfertigung im Nationalsozialismus noch nicht durchgesetzt habe, nannte er ein berühmtes Foto, das zeigt, wie Leni Riefenstahl Zeugin einer Massenerschießung wird. Man sieht man ruhige, fast stumpfe Gesichter der Mörder und dazwischen das völlig entsetzte der Regisseurin. Doch worüber sie sich entsetze, das bleibe offen – über den Anblick oder darüber, dass sie nichts dagegen unternehme? Erst später half das eine Moral verklären. Die Generation, die im Nationalsozialismus groß geworden sei, habe diese Partikularmoral jedoch teilweise verinnerlicht, „während Himmler noch ein Kind des Wilhelmismus“ war.
Gross, der auch zu Martin Walsers Schuldabwehr publiziert hat (ein Aufsatz zum Thema findet sich in „Anständig geblieben“ wieder), wies darauf hin, dass sich die berüchtigten preußischen „Sekundärtugenden“ – wie Treue, Fleiß und Gehorsam – in den Konventionen der Nachkriegszeit niedergeschlagen hätten, mit dem verwirrenden Ergebnis, dass den Jüngeren, den Schuldabwehrenden der 50er und 60er Jahre, zunächst alle Urteilskraft abhandenkam und sie etwa „Anstand“ – nach Diner sogar „die Politik“ – generell ablehnten. Im Alter aber, führte Diner dann fort, habe die folgende Generation ihren Frieden machen wollen mit der Tätergeneration und die nazistische Moralauffassung wiederbelebt. Nun war Mutti eben doch „anständig geblieben“ – „Walser hat dabei ja alle Phasen durchgemacht“.
Aber, so merkte Diner am Ende der Diskussion arg grummelig an, ihm gefalle an dem Buch nicht, dass Gross so undialektisch auf dem Unterschied zwischen partikularer und universeller Moral beharre. Überhaupt entfalte das Buch nicht wirklich neue Ideen. Gross verteidigte sich entschieden, er habe, wie er schon zu Beginn der Veranstaltung betont habe, diese Schwierigkeiten gesehen und hervorgehoben, allerdings auch eine taugliche Sprache für eine Kritik der NS-Moral entwickeln müssen. Es wurde somit gerade spannend – da brach das ICI ab und lud zum Wein. Man tut sich schwer mit Streit in Deutschland.
JÖRG SUNDERMEIER