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Archiv-Artikel

Familien-Watching

Ein Versuch, den Schrecken zu verstehen: In dem Sammelband „Holy Horror Christmas“ erzählen taz-Autoren von verpatzten Familienfeiern und Schwiegermüttern, die mit eiskalten Augen Karpfen servieren. Das ist nicht immer lustig. Aber unterhaltsam

Von WIE

Ist das jetzt ein Anti-Weihnachtsbuch? Der Titel, „Holy Horror Christmas“, könnte darauf hindeuten. Der „Holy Horror“ ist das, was Kinder überkommt, wenn sie keine Kinder mehr sein wollen, aber immer noch zu Heiligabend anrücken müssen. Oder sie rücken nicht an, leiden dann aber darunter. Oder sie leiden nicht, aber schämen sich dafür, dass sie nicht leiden.

Kein Fest ist so furchtbar vertrackt wie Weihnachten, und genau davon berichtet der Sammelband, der jetzt im Konkret Literatur Verlag erschienen ist. Herausgegeben hat die Geschichten der taz-Redakteur Marco Carini. Teils sind sie in der ehemaligen Weihnachtsserie der taz hamburg unter dem Titel „Holy Horror Picture Show“ erschienen, teils wurden sie extra für den Band geschrieben. Zu den Autoren gehören Wiglaf Droste, Fanny Müller, Dietrich Kuhlbrodt und andere, deren Namen innerhalb des taz-Universums und manchmal auch darüber hinaus bekannt sind.

Herausgekommen ist eine überraschend kurzweilige Lektüre. Ein bisschen ist es so wie in den Reality-TV-Shows: Der Zuschauer erhält intime Einblicke in das Leben anderer, intimer, als es den Autoren bewusst gewesen sein mag. Viele Geschichten kommen zwar vordergründig skurril daher, doch es schwingt eine Trauer mit. Das Nicht-Gelingen des Weihnachtsfestes ist ja nur ein Zeichen für ein anderes, fundamentales Nicht-Gelingen, das sich zwischen den Eltern abspielt, zwischen ihnen und den erwachsenen Kindern, zwischen diesen und ihren Lebensgefährten.

So wird der Versuch der Eltern, an Heiligabend eine verlorene Harmonie wiederherzustellen, zum Ausgangspunkt für die spätere Scheidung, und das Kind, das der Autor war, spielt dabei den Katalysator. Tatsächlich hat jeder halbwegs unerfundene Bericht, wie es denn war oder ist an Weihnachten, etwas von einer Familienaufstellung: Mama, Papa, ich, dazu noch Bruder, Schwester, Oma, Onkel. Schöne Diagramme ließen sich da zeichnen. Nur dass die Experimente zur Selbsterfahrung nicht erfunden werden müssen: Dafür sorgt schon das Weihnachts-Setting.

Es ist verrückt: Selbst wenn die Autoren sich in wüsten Festbeschimpfungen ergehen: Entgehen können sie dem faulen Zauber nicht. Es ist so aussichtslos wie der Versuch, die eigene Kindheit auszulöschen oder die Eltern aus dem Kopf zu streichen. Darum auch ist Weihnachten das Fest der postpubertären Auflehnung, das Fest, bei dem Kämpfe aufleben, die längst ausgetragen schienen.

Wohl dem, der Heiligabend bei den Eltern der Freundin verbringen darf. Doch selbst in der vermeintlich sicheren Fremdfamilie tickt der Mechanismus aus symbolischem Erwartungsdruck, Verweigerung, Enttäuschung und Eklat. Die Essensfrage, harmlos als Karpfen blau angesprochen, wird zur Frage der feinen Unterschiede, zum Zugehörigkeitstest, den die Oberschichtfamilie der Freundin und wohl auch diese selbst als „nicht bestanden“ bewertet.

So ist Weihnachten das Fest, an dem wir vielleicht am meisten über uns selbst lernen können. Das zeigt dieser Band, der alles andere ist als ein Anti-Weihnachtsbuch. Im Lachen über die feiertäglichen Missgeschicke, über die unglückseligen Verkettungen und komischen Auftritte steckt auch die Sehnsucht, dass es einmal gut werden möge, dass es bei einem Lachen sein Bewenden haben könnte.

Was aber zeigen gerade die Geschichten, bei denen die objektive Lächerlichkeit am deutlichsten hervortritt, weil die Autoren den Mut zur Blöße haben: Mit einem Lachen ist es gerade nicht getan. Die Familie ist auch der Ort, an dem die wirksamsten Verletzungen zugefügt werden. Sie ist der Ort des Schreckens. Das nie zu vergessen, dazu ist Weihnachten da. WIE

Marco Carini (Hg.): „Holy Horror Christmas. 66 schrecklich wahre Weihnachtsgeschichten“, Konkret Literatur, 144 Seiten, 12,50 Euro