„Unter einer Käseglocke“

Der französische Rockmusiker Rachid Taha spricht über die Agonie der arabischen Welt, Rock-’n’-Roll-Rebellion und Islamismus und die Chansons seiner Eltern – und findet: „Bin Laden ist ein Arschloch“

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Taha, Ihr neues Album besteht ganz aus arabischen Chansons aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Sind sie nostalgisch veranlagt?

Rachid Taha: Nein, überhaupt nicht: Nostalgie ist doch etwas für Faschisten! Ich bin bestenfalls manchmal ein bisschen melancholisch. Mein Album ist eher als Erinnerungsarbeit zu verstehen. Es geht darum, jungen Leuten wie meinem Sohn die Kultur ihrer Eltern und Großeltern zu vermitteln – also an ein Stück Migrationsgeschichte zu erinnern.

Diese arabischen Schlager waren doch die Musik Ihrer Eltern, oder?

Ja, ich habe sie gehört, wenn ich in die Cafés meines Vaters ging. Es ist die Kultur der Scopitones, das waren so frühe Jukeboxes mit bewegten Bildern. Sie fanden sich in vielen Bars, in die die Immigranten nach der Arbeit gingen, um arabische oder nordafrikanische Chansons zu hören. Diese Lieder wurden verfilmt. Es war übrigens die gleiche Person, die all diese Filme gedreht hat.

Sie selbst haben in ihrer Jugend andere Musik gehört?

Klar, wer hört schon die Musik seiner Eltern? Man möchte sich doch von ihnen unterscheiden! Heute denke ich aber, dass man diese Musik kennen sollte. Und wenn man jung ist, ist man schließlich auch ein bisschen blöd, oder?

Und die jungen Leute von heute – sind die auch ein bisschen blöd?

Sie sind dumm in dem Sinne, dass sie glauben, die Geschichte zu kennen. Wenn ich sehe, dass junge Leute heute in den Vorstädten den Ramadan einhalten und vom Islam reden, dann finde ich das dumm. Das ist einfach lächerlich. Sie sind oft radikal, und das gefällt mir nicht. Wenn man die Religion in einer toleranten Weise lebt, dann ist das in Ordnung. Aber wenn sie nur dazu dient, den anderen zu hassen und sich über andere zu erheben, dann lehne ich das ab.

Ist das ein Trend? Ist der radikale Islam an die Stelle Rock-’n’-Roll-Rebellion getreten?

Nein, das sind nur Dummheiten. Das ist nur eine kleine Minderheit, in Frankreich nicht mehr als in Deutschland. Aber man zieht es vor, vor allem über diese Idioten zu sprechen. Das ist der westliche Zynismus: Man spricht von diesen Idioten, damit man sich selbst sagen kann, wie viel besser man doch sei. Dabei denken die meisten Muslime ganz anders, die lehnen das ab. Aber ihnen wird viel weniger Gehör geschenkt. Stattdessen konzentriert man sich auf die wenigen, die Angst machen.

Ist Bin Laden denn nicht für viele junge Muslime ein Symbol des Widerstands geworden – so etwas wie der Che Guevara unserer Zeit?

Ach nein! Und Che Guevara, das war doch auch ein Arschloch: Als er an der Macht war, hat er Leute erschießen lassen. Che Guevara war ein Bourgeois, so wie Bin Laden. Der hat doch seine Terrorgruppe nur gegründet, weil er in seinem eigenen Land, in Saudi Arabien, nicht die Macht ergreifen konnte. Für mich ist das ein Arschloch. Aber George W. Bush ist er nützlich: Mit dem Argument des Terrorismus kann er überall Krieg führen.

In Frankreich gab es bislang keine Terroranschläge wie etwa in London oder Madrid. Hat Frankreich kein Problem mit gewaltbereiten Islamisten?

Vielleicht ist die Polizei in Frankreich einfach besser? Nein, im Ernst, ich denke, es gibt da ein Problem. Vielleicht gibt es mehr Radikale in England und man hat sie zu lange gewähren lassen? Vielleicht sind die Muslime in Frankreich aber auch moderater: Der Islamismus in Großbritannien kommt aus Südasien, aus Pakistan und Afghanistan. Die Mehrheit dort spricht kein Arabisch, und ich denke, das begünstigt eine falsche Interpretation des Koran. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Attentäter Engländer sind. Die britische Gesellschaft muss sich fragen, wie es dazu kommen konnte.

Sie spielen auf die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft an. Sie selbst sind in Frankreich ein Mainstream-Star – das ist doch ein positives Zeichen, oder?

Mag sein. Aber das romantische Bild von Frankreich als weltoffen und tolerant ist auch falsch. Viele glauben, dass die algerische Rai-Musik in Frankreich populär wäre, aber das ist nicht der Fall. Im Radio jedenfalls werden keine Stücke gespielt, die auf Arabisch gesungen werden.

In den letzten Zeit konnten Sie auch in einigen arabischen Ländern Erfolge feiern, obwohl Ihre Musik dort eher unkonventionell ist. Haben sie das Gefühl, dass die arabische Welt im Wandel begriffen ist?

Sie muss sich ändern. Ich weiß nur nicht, ob sie das auch tut. Die arabische Welt wirkt auf mich, als würde sie unter einer Käseglocke gären und jeden Moment vor einer Explosion stehen – wegen des Kriegs im Irak oder wegen des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Wie stellt sich die Situation für einen Künstler in der arabischen Welt dar?

Das größte Problem ist, dass es in den meisten arabischen Ländern keine Strukturen gibt: Keine Kinos, kein Theater – die Künstler sind nicht relevant. So ist das eben, wenn es keine Demokratie gibt. Daher ist es sehr schwierig, eine Tournee zu organisieren oder einen Film zu drehen. Die Intellektuellen und Künstler mussten viele Opfer bringen. Deswegen sind viele ausgewandert, und die arabischen Länder sind intellektuell ausgeblutet.

Dafür gibt es eine rege Diaspora. Welchen Einfluss hat sie?

Klar, sie hat einen gewissen Einfluss. Paris ist ja inzwischen so etwas wie die heimliche Hauptstadt der arabischen Welt geworden. Aber es wäre natürlich besser, wenn diese Leute in ihren eigenen Ländern die Dinge voranbringen könnten.

Die arabischen Gesellschaften sind sehr jung: Ist das ein Potenzial für Veränderung?

Diese Gesellschaften sind sehr jung und zugleich sehr alt, fast alle sind praktisch Monarchien. Ob ich in Ägypten, im Libanon oder in Algerien war: Die meisten jungen Leute, die ich getroffen habe, wollen nur auswandern – nach Europa oder, noch lieber, in die USA. Das ist ein großes Problem.

Die Banlieue-Krawalle haben gezeigt, dass auch in Frankreich für die maghrebinische Jugend die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Das gilt für die Jugend insgesamt. Man spricht von den Maghrebinern oder Afrikanern, wenn es um solche Dinge geht. Aber wenn sie im Fußball gewinnen, dann sind sie Franzosen.