Der? So? Wirklich?
JA

AUFRUF Europäische Intellektuelle erklären ihre Unterstützung für Shootingstar Alexis Tsipras. Der Chef der griechischen Syriza-Partei stehe symbolisch für den Kampf der Europäischen Linken

Genau so. Alexis Tsipras ist die Unterstützung der linken Kulturtheoretiker und -schaffenden wert. Sie tun recht daran, dazu einen knappen Aufruf zu veröffentlichen. Wer sonst nicht unter 300 Seiten veröffentlicht, hat natürlich symbolisches Kapital zu verlieren. Eben deshalb wird das theorieinteressierte Volk den Schritt zu würdigen wissen. Wer gern liest, findet auch den Link zu ausführlicheren Analysen.

Im Wahlkampf ist Verkürzung nicht nur den Parteistrategen erlaubt. Der Grieche Tsipras ist als Eurolinken-Spitzenkandidat die Gegenfigur zum Griechenland- und Eurorettungskurs der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Selbst diejenigen aber stempeln Tsipras zur Unperson, die wissen, dass die Troika-Krisenbewältigung ungerecht ist und die Falschen bestraft.

Dabei werden die Spitzenkandidaten mit doppelter Elle gemessen. Der Konservative Jean-Claude Juncker, diese Marionette Merkels, sagt nur „Wachstum“ und „Wohlstand“: Niemand stößt sich dran. Der Sozialdemokrat Martin Schulz beklagt – zu Recht – das Auseinanderbrechen Europas: Keiner fragt ihn nach der Rolle seiner Partei. Tsipras aber, der ist bloß, oh pfui, ein Populist. Hier spielt die Symbolpolitik, und darüber weiß die Akademie Bescheid.

Seit Jahrzehnten jammert die Presse, dass die Intellektuellen sich aus der Politik heraushalten, zu feige und zu faul für den tagesaktuellen Kampf ums Bessermachen sind. Nun haben die Abgehobensten von allen einen ganz konkreten Vorschlag: Wählt Tsipras! Dann schreibt an eurer Doktorarbeit weiter. So nimmt man Europa ernst.

ULRIKE WINKELMANN

NEIN

Auf keinen Fall. Es mag sein, dass der griechische Spitzenkandidat der europäischen Linken programmatisch gegen Armut und Krise zu bieten hat. Dass er für Linke unwählbar ist, erschließt sich aus dem Text des Global Intellectual Jet Set leicht.

Sie sprechen vom Weltkrieg (I. und II.), von drohender Apokalypse und einem „Scheideweg“. Sprechender als das, was sie mitteilen, ist das, was sie verschweigen: das Erbe des Stalinismus, die völkische Totalität, den Holocaust.

Das sind Politiken, für die einer wie Tsipras nicht steht – und seine followers ebenso wenig: individuelle Freiheitsrechte, Minderheitenschutz, demokratische Teilhabe – und eine Wertehaltung, für die Freiheit schlechthin nicht gegen das Soziale ausspielbar ist.

Das Europa der EU hat, wie man beim russisch-ukrainischen Krieg erkennen kann, die Rolle einer Friedensstifterin ausgefüllt, und das tut sie seit ihrer Gründung. „Brüssel“ – als Chiffre – hat kein Paradies begründet, sondern eine nicht perfekt funktionierende politische Union. Mit Macken, klar. Diese sind abstellbar. Kein Wunder, dass Millionen Menschen schon ihrer Bürgerrechte wegen gern zur EU gehören wollen. Sie sehen hier Zukunft, nicht Krise.

Diese EU als katastrophischfördernd zu bezeichnen, gehört zum Interpretations- und somit Geschäftsmodell der Tsipras-Edelfreunde: mehr biblisch inspirierte Mahner als echte libertäre Linke. Wollen sie diese Apokalypse? Ersehnen sie das Schlimmste, um in ihren Heilsprophezeiungen wärmer stahlbaden zu können?

JAN FEDDERSEN