: Sich ein interessanteres Leben basteln
THEORIE IN DER PRAXIS Bowie hat Theatralik, Mode und avantgardistische Ideen auf zuvor nie gesehene Weise integriert. Pop wurde zur ganzheitlichen Erfahrung
VON STEPHANIE GRIMM
Kürzlich beim Promo-Termin der Berliner Band I Heart Sharks. Simon Wangemann, ein junger Mann aus New York, und der Londoner Pierre Bee erklären, wieso sie sich Berlin als Basis für die angestrebte Popkarriere ausgesucht haben: Kennengelernt haben sich die beiden Bandgründer, ganz prototypisch, zwar im Touristenmagneten Berghain. Doch bei der Frage, was sie denn nach Berlin gelockt hat, landen sie ganz schnell bei David Bowie und den Hansastudios. Der Mythos wirkt sogar bei Menschen unter 30 nach.
Auch bei Pilocka Krach, einer Berliner DJane, die sich und den Technozirkus sympathischerweise nicht allzu ernst nimmt. Sie hat einen Track „David Bowie will never die“ genannt und malt sich gern mal den ikonografischen Blitz vom „Aladdin Sane“-Cover ins Gesicht.
In der kulturellen DNA
Bowie ist Jahrzehnte nach seinem Karrierehöhepunkt immer noch tief verwurzelt in unserer kulturellen DNA. In Hochglanz-Modemagazinen findet man die Spuren seines Schaffens ebenso wie in der Musik oder dem Kunstbetrieb. Und nicht nur Kulturschaffende hat Bowie beeinflusst, sondern viele andere Menschen: Wer sich im Alltag für die Semantik von Pop interessiert, kommt um ihn nicht herum. Genauso wenig wie jene, die sich für Conchita Wursts ESC-Sieg begeistern oder sich selbst an Geschlechtergrenzen abarbeiten.
Theatralik, Mode und avantgardistische Ideen hat Bowie in seiner wirkungsmächtigsten Zeit, den 70er und frühen 80er Jahren, auf bis dahin nie gesehene Weise in die Popmusik integriert und Pop damit zu einer ganzheitlichen Erfahrung gemacht. Davon profitierten nachfolgende Generationen bis heute. Man konnte und kann viel lernen von Bowies Ansatz, sich eine eigene Welt zu schaffen: zum Beispiel, wie man sich kulturell Neues erschließt und aus Versatzstücken eine neues Image schafft. Kurzum: wie man sich ein interessanteres Leben bastelt und sich nebenbei auch noch von identitärem Ballast befreit. Anders als bei vielen Musikern seiner Zeit hieß Bowies Programm nämlich eher Selbstermächtigung als Rebellion.
Und so wurde aus Bowie, obwohl man ihm diese Rolle wegen seiner oft wenig empathischen Selbstinszenierungen höchstens auf den dritten Blick zuschreiben würde, eben auch ein Mentor: Seinen Fans hat er nicht nur den Soundtrack für ihren Alltag, sondern auch Anregungen zur Lebensgestaltung (in manchen Fällen sogar Lebensbewältigung) geliefert – mit losen Enden, an die sich andocken lässt.
Dandy und Außerirdischer
Die Projektionsfläche Bowie konnte der geneigte Fan sich immer wieder neu entwerfen, aus den Versatzstücken seiner wechselnden Identitäten einen abwechslungsreichen Entwicklungsroman schreiben. Anregungen lieferte David Bowie zuhauf: Unter anderem war er in seiner langen Laufbahn Dandy, Außerirdischer, Internetpionier, Eremit, Drogenwrack, Geschäftsmann und natürlich Schauspieler.
Nicht nur sich selbst hat ermächtigt: Er hat die Blaupause, wie man das anstellen kann, weitergegeben. Und damit viele Leute beeinflusst, berühmte wie unbekannte. Das erschloss sich sogar dem jugendlichen Fan, ganz intuitiv, ohne dass man viel Ahnung haben musste von dem Referenzsystem, in dem Bowie sich bewegte.
Er war schon bei uns, als wir von der bunten weiten Welt da draußen noch wenig wussten. Nicht umsonst nannte die Schauspielerin Tilda Swinton ihn „Every alien’s favourite cousin“ in ihrer anrührenden, googelnswerten Eröffnungsrede der Londoner Bowie-Ausstellung, die jetzt nach Berlin kommt und am kommenden Dienstag eröffnet wird.