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Archiv-Artikel

Nicht sexy, aber immerhin groß

„Lost in Berlin“? Nicht ganz. Schulklassen auf Abschlussfahrt gehören ins Berliner Stadtbild. Ein Tag mit drei zehnten Klassen eines Gymnasiums führt ins KaDeWe, ins Jüdische Museum, einen Atomschutzbunker und zu den Lehrern in der Karaokebar

Annika zeigt sich unbeein-druckt: „Wenn man Düsseldorf-verwöhnt ist, kann einem der Ku’damm nix mehr geben“

VON LENA HACH

„Der Döner kommt aus Berlin und dann finden wir keinen. Das ist doch überraschend.“ Arnold, 16, steht mit seinen Klassenkameraden auf dem Ku’damm und blickt sich verwundert um. Er und seine 92 MitschülerInnen kommen gerade aus der im ausgestorbenen Kudamm-Karree liegenden Ausstellung „The Story of Berlin“ und haben somit acht Jahrhunderte Geschichte im Schnelldurchlauf hinter sich gebracht. Das macht hungrig.

Arnold und seine Kameraden sind auf Klassenfahrt in Berlin, untergebracht in einem Hostel ganz in der Nähe der Schillingbrücke. Sie kommen aus Nordrheinwestfalen, aus dem kleinen Städtchen Erkrath. Geflasht von Berlin scheinen sie am zweiten Tag ihrer Reise jedoch nicht unbedingt. Auch wenn ein Highlight ihres Besuchs die Besichtigung des unter dem Ku’damm liegenden Atomschutzbunkers ist. Die SchülerInnen werden durch dessen unterirdisches Bettenlager geschleust. Dunkel ist es, nur der Blitz einer Digicam oder eines Fotohandys sorgt ab und zu für mehr Licht. Als der Guide das Leben im Bunker beschreibt, macht sich auch beim Letzten Beklemmung breit. „Da würde ich, glaube ich, lieber in der Strahlung sterben“, sagt eine Schülerin zu ihrer Freundin.

Das reicht wohl erst mal an Eindrücken für den Vormittag. Den Rest der Ausstellung nehmen die Schüler jedenfalls nur noch nebenbei mit, sie schlendern vorbei an Trabi und Blusen aus Ost und West, an preußischen Kaminkacheln und nachgebauten West-Wohnzimmern. Wer die freie Zeit bis zum nächsten Termin im Jüdischen Museum nicht wie Arnold mit der Jagd auf Döner verbringt, geht shoppen. Auch wenn Annika sich vom Ku’damm vollkommen unbeeindruckt zeigt: „Wenn man Düsseldorf-verwöhnt ist, kann einem das nix mehr geben.“

Dann packt sie allerdings doch der Kaufrausch. In einem kleinen Laden kauft sie mit ihren Freundinnen Oberteile mit Glitzerschrift. Ohne Zweifel die edlere Alternative zu den T-Shirts und Pullis, die sich Schulklassen häufig drucken lassen, wenn sie gemeinsam auf Reise sind. Auch einige der SchülerInnen aus Erkrath tragen solche Pullover. Auf ihnen steht vorne in fetten Buchstaben „Lost in Berlin“. Viele Erwartungen haben die Erkrather aber nicht mit in die Hauptstadt gebracht. Vor allem „groß“ haben sie es sich hier vorgestellt. Sie empfinden die Straßen als sauber und, noch überraschender, das Verkehrsnetz der BVG als ausgezeichnet. Arm, aber sexy soll Berlin sein? „Wie kann eine Stadt sexy sein?“, fragen sie zurück – und einigen sich auf ein unaufgeregteres „attraktiv“.

Kurze Zeit später im Jüdischen Museum werden alle Einkaufstüten – viele davon mit KaDeWe-Aufdruck – durchleuchtet. Der Guide liest aus der Thora vor und bekommt Szenenapplaus. Schreckensschreie hallen durch das Museum, als er von Beschneidungspraktiken spricht. Im Exilgarten weckt die Architektur Daniel Libeskinds den Spieltrieb: Die SchülerInnen laufen zwischen den Stelen umher und erschrecken sich gegenseitig. Der Guide zeigt Verständnis: „Es gibt massenweise Überraschungen in einer Umgebung, die man nicht kennt.“ – „Wie hier in Berlin“, ergänzt eine Schülerin.

Dass die jungen Gymnasiasten in Berlin einer Vielzahl neuer Eindrücke ausgesetzt sind, lassen sie sich selbstverständlich kaum anmerken. Selbstsicher bewegen sie sich durch die Stadt. Barbara sagt, sie habe zum Beispiel gleich gelernt, dass man hier bei Rot über die Ampel geht. Im Gegensatz zu anderen Touristen scheinen Schulklassen die viel entspannteren Berlinbesucher zu sein, denn im Vordergrund steht für sie nicht das Abhaken von Sehenswürdigkeiten, sondern das gemeinsame Verbringen der unterrichtsfreien Zeit: im Hostel rumhängen, quatschen und Billard spielen, rumlaufen und Mitbringsel kaufen. Frau Schäfer, eine der verantwortlichen Lehrerinnen, erklärt, eine Klassenfahrt nach Berlin zu machen, das sei schon eine Art Tradition. „Die SchülerInnen haben von den vergangenen Berlin-Fahrten gehört, und da wollten sie auch hierhin.“

Einer der Schüler verrät: „Das letzte halbe Jahr haben die Lehrer immer gedroht: Wer sich nicht benimmt, kommt nicht mit nach Berlin.“ Wie er das sagt, klingt es allerdings so, als hätte dieses Druckmittel genauso bei anderen Zielen gewirkt. Nur hätte „Büttelborn“ wohl nicht so gut geklungen. Zum Abschluss des Tages findet dann in der Bar des Hostels Karaoke statt. Es ist zwar noch früh am Abend, doch spätestens als zwei Lehrer mit ihren Gesangseinlagen Marmor, Stein und Eisen brechen lassen, sind auch bei den Schülern die letzten Hemmungen überwunden. So schnell ist sonst selten Stimmung an der Spree.