: Die Vermessung der Weltmusik
GLOSSE Was, wenn alle Musikarchive geplündert und die letzten Ecken der Erde erkundet wurden?
Früher verstand man unter „globalem Pop“ so etwas wie Michael Jackson, Bob Marley oder den „Titanic“-Soundtrack – Musik, die weltweit, also rund um den Globus, gehört wurde. Doch solche wirklich globalen Weltstars gibt es immer weniger, die ehemaligen Supermächte des Pop, Großbritannien und die USA, haben kräftig an Einfluss eingebüßt.
Heute, nach dem Ende der Konfrontation zwischen diesen beiden popästhetischen Blöcken, leben wir in einer multipolaren Welt, deren Zentren nicht länger nur London und New York sind, sondern auch Lagos, Istanbul, Rio, Manila und São Paolo heißen können. Auf dieser Landkarte können auch kleine Länder wie Mali, Angola oder die Kapverden zu musikalischen Großmächten aufsteigen, während wirtschaftliche Schwergewichte wie China bisher ein eher noch kleines Licht bilden.
Doch irgendwann dürften auch die letzten Ecken der Welt ausgeleuchtet, dürfte der letzte Pygmäenchor aus dem Busch geholt worden sein. Die allgegenwärtige „Retromania“, die der Pop-Theoretiker Simon Reynolds in seinem gleichnamigen Buch diagnostiziert hat, macht deshalb inzwischen auch vor den entlegensten Ecken des Globus nicht mehr halt. Plattenlabels wie „Analog Africa“, „Sublime Frequencies“ und „Awesome Tapes from Africa“ durchforsten die Archive Afrikas, Lateinamerikas und Asiens nach bisher ungeborgenen Schätzen. Bei diesem allgemeinen Bergungseifer ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die letzten verschollenen Tonspuren ausgemacht, wiederentdeckt und digitalisiert worden sind – so wie man befürchten muss, dass bei dem anhaltenden Hunger nach Fisch irgendwann auch die Weltmeere von uns leer gefischt sein könnten. Was dann? Werden wir dann erkennen, das man Reissues nicht essen kann?
Zum Glück ist Musik eine nachwachsende Ressource, und bei der bestehenden Vielfalt der Stile lassen sich fast unbegrenzt Arten kreuzen. So wurde aus traditioneller Musik aus den Townships mit elektronischen Mitteln Electro Shangaan, aus der traditionellen Cumbia die Cumbia Digital. Aber da geht noch was: Düstere Elektronik aus dem Londoner East End ließe sich mit indonesischem Gamelan-Geklingel zum Gamelan-Grime kombinieren oder Afrobeat mit bulgarischen Frauenchören zum Bulgafrobeat. Wie wäre es mit einer Mischung aus Rap, irischem Folk und kapverdischen Klängen? Als Genrebezeichnung würde sich Rap O’Verde anbieten. Und „Anarchy in den Anden“ wäre ein guter Albumtitel für eine Panflöten-Punkband.
Eine andere Möglichkeit wäre, sich vom musikalischen Anspruch zu verabschieden und statt nach dem Wahren, Guten und Schönen lieber nach dem Falschen, Schlechten und Ekligen zu suchen. Für eine Compilation-Reihe unter dem Motto „Music you don’t want to hear from places you don’t want to see“ ließen sich viele Folgen denken. Traurige Trinklieder sibirischer Einsiedler? Die schönsten Parteihymnen aus Nordkorea? Die Lieblingslieder der Taliban?
Überhaupt, Diktaturen. Gerade in den Giftschränken ehemaliger Gewaltherrscher dürften noch einige zu Recht vergessene Kunstwerke lagern. Hat Idi Amin nicht auch Violine gespielt? Gibt es von Gaddafi nicht unveröffentlichte Wüstenblues-Aufnahmen? Oder romantische Balladen eines Robert Mugabe? Und von Stalin Orgelkompositionen? Ein denkbarer Titel für eine solche CD-Reihe wäre: „Dictators’ Delight“. D. B.