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Archiv-Artikel

Trost für elende Menschen

Musiktheater mal anders: Schauspiel und Oper Düsseldorf verbinden in „Herz und Mund und Tat und Leben“ eine Bach-Kantate mit soziologischen Texten von Pierre Bourdieu zum Elend der Welt

VON REGINE MÜLLER

Bei der RuhrTriennale hätte man den Abend eine „Kreation“ genannt. Am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo der noch nicht acht Wochen währenden Intendanz von Amélie Niermeyer das Glück bislang nicht sonderlich hold schien, ist man bescheidener: „Musiktheater“ nennt sich die Produktion mit dem ausufernden Titel: „Herz und Mund und Tat und Leben.“ Was holprig klingt, ist keine originelle Dramaturgentat, sondern die freundliche Übernahme einer barocken Dichtung von Salomon Franck. Anno 1723 wurde selbige von Johann Sebastian Bach als geistliche Kantate für das Fest Mariä Heimsuchung vertont.

Bach stand im ersten Jahr seiner Leipziger Thomaskantorei, als er die Kantate komponierte, und hätte sich wohl kaum erträumt, dass seine fromme Musik einmal im Theater erklänge. Hatte man ihm doch in Leipzig streng untersagt, „opernhafftig“, also zu theatralisch zu komponieren. Das irdische Dasein in der feudalen Gesellschaft der Bachzeit war prall und zugleich karg und beschwerlich, die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Versorgungsstrukturen war noch längst nicht erfunden. Auch die Wissenschaft der Soziologie lag in weiter Ferne. Was also hat ein französischer Soziologe des späten 20. Jahrhunderts mit der protestantischen Spiritualität Bachs gemein?

Diese Frage wird in Düsseldorf beantwortet, bevor sie gestellt wurde, denn Passagen aus Pierre Bourdieus Soziologie-Standardwerk „Das Elend der Welt“ werden mit Bachs geistlicher Musik beinahe bruchlos verwoben. Fünf der Interviewpartner Bourdieus stehen auf der Bühne, verkörpert durch Ensemblemitglieder des Schauspielhauses, vier junge Sänger, die wie Schutzengel den Unglücklichen beispringen, entstammen dem „Jungen Ensemble Rheinoper“ des benachbarten Opernhauses, im Orchestergraben sitzt eine barocke Auswahltruppe der Düsseldorfer Symphoniker, die der Dirigent Andreas Stoehr anführt.

Das Projekt ist nämlich zugleich auch die Premiere einer überfälligen Kooperation zwischen Schauspiel- und Opernhaus, die örtlich lediglich der Hofgarten trennt, lange Zeit aber nicht zueinander finden konnten. Die Szenerie ist apokalyptisch: Ein ausgeräumter Schuhladen wird zum unfreiwilligen Unterschlupf von Menschen verschiedenster sozialer Herkunft während eines totalen Stromausfalls. Ein Richter, ein Peugeot-Arbeiter, eine Briefsortiererin, eine Schuhverkäuferin und eine Rentnerin breiten während des Blackouts ihre Erfahrungen aus, erzählen von ihren Ängsten und Bedrohungen, von der Einsamkeit der Stadt, dem Horror der modernen Arbeitswelt und der Kälte der Globalisierung. Obwohl sich all diese Umstände seit der Veröffentlichung der Texte (1993) noch wesentlich verschärft haben, sind Bourdieus Aufzeichnungen nach wie vor aktuell, allerdings noch unlösbarer als dereinst. Das Konzept von Laura Berman und Regisseur Thomas Krupa, der krankheitshalber die Vollendung des Abends an die Hausherrin Amélie Niermeyer abtreten musste, stellt eine kühne Behauptung auf: Der gequälte, elende Mensch der globalisierten Moderne bedarf des spirituellen Trostes.

So schreitet immer wieder Bach ein, mal in Form der ersten Takte aus der D-Moll-Chaconne für Violine solo, mal mit mystisch getönten Arien oder mit leuchtenden Chorälen. Die Sänger trösten, streicheln und stützen die verzweifelten Menschlein und wirken dabei kein bisschen albern oder gar kitschig. So schlicht, oder gar naiv diese zentrale Idee scheinen mag, das Ergebnis ist es mitnichten. Es hat tatsächlich so gar nichts von einem esoterischen Trip oder tümelnder Frömmigkeit, was sich da stets in großer Intimität und trefflichem Teamgeist auf der Bühne abspielt. Das mag auch der Sorgfalt geschuldet sein, mit der Andreas Stoehr Bachs Musik passgenau zu den Texten auswählte, der musikalischen Qualität der Ausführenden überhaupt, dem intensiven Zusammenspiel aller und dem minutiösen Timing.

Und dann natürlich dem Meister Bach selbst, der im irdischen Leben ja beides war: tief gläubiger und demütiger Mensch und zugleich selbstbewusster, aufmüpfiger und rabiat für seine Rechte kämpfender Künstler, der sich sein Leben lang mit Dienstherren, Fürsten und Königen anlegte. Das hört man eben doch irgendwie.

Nächste Termine: 21.11., 26.11., 2.12., 3.12.