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Archiv-Artikel

Sterbende Landschaften

BRANDENBURG Der Bevölkerungsforscher Rainer Klingholz fordert, stark schrumpfende Orte einfach aufzugeben. Die Landesregierung will davon nichts wissen: Ein Rückzug aus der Fläche sei die falsche Konsequenz

Es geht auch anders: Potsdam

■ Im Berliner Speckgürtel ist von Abwanderung nichts zu sehen – im Gegenteil. Hier liegen die Orte mit den größten Zuwachsraten Brandenburgs. In Glienicke/Nordbahn, Ahrensfelde, Schönefeld oder Brieselang hat sich die Bevölkerungszahl in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt.

■ Auch die Landeshauptstadt Potsdam hat sich von der Abwanderung nach der Wiedervereinigung erholt. Die Einwohnerzahl liegt 10 Prozent höher als 1993. Für das Jahr 2030 rechnen die stetig nach oben korrigierten Prognosen mit 180.000 Einwohnern. In der Stadt gibt es schon heute praktisch keinen Leerstand. Nun will die Landesregierung nach neun Jahren erstmals wieder den Neubau von Sozialwohnungen fördern. In den nächsten sechs Jahren sollen dafür 240 Millionen Euro in den berlinnahen Städten und Gemeinden eingesetzt werden. (mts)

VON MARCO ZSCHIECK

Eigentlich macht der Ort Gräben einen idyllischen Eindruck: Eine Feldsteinkirche steht auf dem Dorfanger, es gibt einen Landschaftspark und einen eiszeitlichen Findling. „Umgeben von herrlichen alten Eichen- und Kiefernwäldern, lädt Gräben ideal zu ausgedehnten Wanderungen ein“, wirbt die Gemeinde im Fläming mit ihren Reizen. Die letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnete den Ort allerdings eher die Abwanderung der Bewohner. Mit 58 Prozent weniger Bewohnern als 1993 hält die Gemeinde den Spitzenplatz beim Einwohnerverlust in der aktuellen Statistik des Landes Brandenburg.

Prämie für Wegzug

Mit der Entvölkerung ist Gräben nicht allein: Während Wolf und Biber sich in der Mark wieder ansiedeln, verlassen viele Menschen die Städte und Gemeinden vor allem am Rande des Landes. Betroffen sind dabei Industriestädte wie Eisenhüttenstadt und Schwedt, die über 40 Prozent weniger Einwohner haben als vor 20 Jahren – obwohl seitdem umliegende Dörfer eingemeindet wurden. Auch zahlreichen ländlichen Gemeinden laufen die Einwohner davon.

Doch die Orte einfach aufzugeben geht der Landesregierung in einem Jahr mit Landtagswahlen zu weit. Das sei grotesk, heißt es aus dem Infrastrukturministerium.

Anlass zu der heftigen Reaktion gab der Berliner Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz. Die Märkische Oderzeitung hatte seinen Vorschlag einer sogenannten Wegzugprämie zitiert. Kurz gesagt: Für etwas Bargeld könnte sich die Staatskasse die Kosten für teure Infrastruktur sparen, die nur von wenigen Menschen benutzt wird. Systematischer Leerzug sei nicht möglich, weil man niemanden zwingen könne, seine Immobilie aufzugeben, so die Kritik an dem Vorschlag.

Doch Klingholz fühlt sich missverstanden. „Da soll niemand mit dem Megafon durch die Dörfer laufen und rufen: Hier sind 10.000 Euro für alle, die wegziehen“, sagte Klingholz der taz. Es gehe vielmehr um Hilfen besonders für ältere Menschen, die aus schrumpfenden Dörfern in die nächstgelegenen Städte ziehen wollen, wo es Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten und barrierefreie Wohnungen gebe. „Viele hängen dort fest, würden gerne weg, können ihr Haus aber nicht verkaufen, weil es nichts mehr wert ist“, so der Forscher. In einer Umfrage für die Enquetekommission des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern hatte ein Drittel der älteren Bewohner schrumpfender Dörfer diesen Wunsch geäußert.

„Fatales Signal“

Die Probleme der Entvölkerung sieht auch Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg. „Ich teile die Analyse, aber nicht die Schlussfolgerung“, sagt er. Ein Rückzug aus der Fläche sei ein fatales Signal und bedeute ein Einfallstor für Nichtdemokraten. Ihm gehe es um angepasste Lösungen. Auf die ein oder andere Umgehungsstraße könne zugunsten der bestehenden Infrastruktur verzichtet werden. Weitere Schulschließungen dürfe es nicht geben. Stattdessen sollten die Lehrer pendeln.

Böttcher gibt einen Teil der Schuld an der Abwanderung der Landesregierung. Die gemeinsame Landesplanung mit Berlin habe den Prozess beschleunigt. Die Abschaffung der sogenannten Grundzentren – also von Orten, an denen öffentliche Dienstleistungen oder Pflegeheime geplant werden – im Jahr 2009 habe in Brandenburg Regionen zweiter Klasse geschaffen. Da sei es kein Wunder, dass viele Menschen dort keine Perspektive mehr sähen.

Doch Klingholz hat auch prominente Fürsprecher. „Durch den demografischen Wandel verstärkt sich das Gefälle zwischen städtischen Zentren und ländlichen Gebieten enorm. Diese Unterschiede müssen wir anerkennen, um den richtigen Ordnungsrahmen für das Kleinerwerden aufzustellen“, sagt Exbundesumweltminister Klaus Töpfer.

Dessen Nachhaltigkeits-Institut IASS mit Sitz in Potsdam hatte im vergangenen Jahr mit dem Berliner Institut für Bevölkerungsforschung eine Studie veröffentlicht. Als Fazit forderten sie den Abschied vom Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse. Wo junge Menschen abwandern, nehme langfristig in der Regel auch die Wirtschaftskraft ab. Selbst millionenschwere Förderprogramme könnten diesen Prozess nicht aufhalten, so die Forscher.

Landflucht habe es auch früher gegeben, erklärt Klingholz. Allerdings waren Kinderzahl und Bildungsniveau höher. Heute hingegen verlassen junge Menschen die Dörfer nach dem Schulabschluss, und nur wenige kommen später zurück.

Ganz neu sind auch Klingholz’ Ideen nicht: Schon 2007 hatte er die demografische Entwicklung Brandenburgs untersucht – im Auftrags des Potsdamer Landtags. Schon damals beschrieb er die fortgesetzte Abwanderung und schlug die Aufgabe fast leer gezogener Dörfer vor. Als dann das Ergebnis veröffentlicht wurde, empörte sich die Landesregierung: Der damalige Finanzminister Rainer Speer (SPD) sprach von stalinistischer Bevölkerungspolitik. Auch die CDU lehnte die Vorschläge strikt ab. Passiert ist anschließend nur – dass die Abwanderung stieg.