MANCHESTER – BERLIN : Der schmale Grat
Sie arbeite nicht oft hier, sagt die junge Apothekenaushilfskraft in der Karstadtapotheke, und müsse erst die Kollegin fragen. „Tun Sie das“, hauche ich milde gestimmt. Schließlich ist Vorweihnachtszeit. Zeit der Besinnung, Zeit, mal etwas Gutes zu tun für die Gemeinschaft. Es ist im Grunde die einzige Zeit des Jahres, in der auch ich böser alter Onkel ausnahmsweise einmal die Säufernase aus dem Sumpf meines drohnenhaften Hedonismus recke, um sie von der frischen Luft der Nützlichkeit umwehen zu lassen. Ich hole mir einen neuen Organspendeausweis.
Den alten hatte ich ja schon im Frühling in Manchester verloren. Zusammen mit dem ganzen restlichen Inhalt meiner Geldbörse sowie der Börse selbst. „Niemand verliert in Manchester sein Portemonnaie“, erklärte mir wenig später Doc M., die lange dort studiert hat. „Au fein“, seufzte ich daraufhin erleichtert, „da bin ich aber froh.“ „Brieftaschen werden in Manchester grundsätzlich geklaut“, führte sie ernüchternd aus.
Gut, die Karten hatte ich natürlich sperren lassen und neue beantragt, ebenso den Führerschein. Einen Personalausweis benötige ich nicht und den P-Schein will ich sowieso nie wieder sehen. Das Einzige, was noch immer fehlt, ist der Organspendeausweis. Auch wenn mir nicht ganz klar ist, was der Dieb damit anfangen will, außer ihn an den kosovarischen Staatschef zu verhökern.
Die Aushilfe kommt mit meinem Ausweis zurück. Jetzt muss ich ihn nur noch ausfüllen, ins neue Portemonnaie stecken und nie wieder klauen lassen. Kurz überlege ich, ob ich den Eintrag um eine launige Warnung vor meiner Leber ergänzen soll. Doch dann erscheint mir das blöde Kokettieren mit der eigenen Gefährdung auf Kosten der bereits vom Grat gefallenen weniger Glücklichen und Robusten irgendwie nicht weihnachtlich genug. ULI HANNEMANN