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Archiv-Artikel

„Die Lösungen liegen vor uns“

EU-BEITRITT Die Abgeordnete Safak Pavey kritisiert die eigene Regierung, überhaupt nicht in die EU zu wollen. Und sie kritisiert die EU dafür, die Türkei gar nicht haben zu wollen

Safak Pavey

■ 38, ist seit 2011 Abgeordnete der kemalistisch-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP. Zuvor lebte sie 15 Jahre im Ausland.

taz: Frau Pavey, Sie haben einen großen Teil Ihres Lebens in Europa verbracht. Gehört die Türkei zu Europa? Safak Pavey: Die Türkei ist ein europäisches Land und zugleich ein Land des Nahen Ostens. Ich glaube, die Irritationen rühren aus dieser Gleichzeitigkeit. Es gibt Regionen in der Türkei, die nicht weniger entwickelt sind als Italien. Und andere, deren Armut an den Jemen erinnert. Gehört die Türkei auch mit dieser Regierung zu Europa? Sie hat nicht den Anspruch, die Türkei in die Europäische Union zu führen. Sie zieht es vor, im Sumpf des Nahen Ostens zu bleiben. Seit 2007 schiebt sie dem Ausland – also dem Westen – die Verantwortung für alle Probleme zu. Diese Regierung will das Moderne, Europäische innerhalb der türkischen Gesellschaft abschütteln. Vor ein paar Jahren war in der Türkei ein Beitritt zur EU noch in aller Munde, nicht nur unter Politikern, auch im Alltag der Leute. Das hat sich geändert. Das ist richtig, die Unterstützung für die EU schwindet. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass die EU es abgelehnt hat, der Türkei eine konkrete Beitrittsperspektive aufzuzeigen. Natürlich ist es noch ein langer Weg bis zu einer Mitgliedschaft. Aber die EU gibt der Türkei zu erkennen, dass sie nicht gewollt ist. Man spricht von einer „privilegierten Partnerschaft“ oder von einer Volksabstimmung über den türkischen Beitritt. Bei der türkischen Bevölkerung kommt das so an: Sie wollen uns nicht aufnehmen und sie werden uns nicht aufnehmen. Aber ich weiß, dass nicht alle in Europa so über die Türkei denken, und glaube daran, dass diese Beziehung wiederbelebt werden kann. Wollen die Europäer denn die Türkei aufnehmen? Das müssen Sie sie selber fragen. Ihre Partei, die CHP, spricht auch nicht viel von der EU. Wie kommen Sie darauf? Ich gehöre zu der Gruppe von CHP-Abgeordneten, die als Parlamentier an den Beitrittsverhandlungen beteiligt sind. Wir sind davon überzeugt, dass die derzeitigen fürchterlichen Mängel in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Sicherheit am Arbeitsplatz, gewerkschaftliche Organisierung usw. mit der Übernahme der EU-Standards behoben werden können. Meine Partei verbindet eine lange Geschichte mit der EU. Warum wollen Sie eigentlich in die EU? In aller Kürze: Weil wir denken, dass die EU-Mitgliedschaft ein Projekt zur Modernisierung und Entwicklung der türkischen Gesellschaft ist. Darum. Sie waren zuletzt in der Unglücksstadt Soma. Bei uns gibt es eine merkwürdige Kultur der Ignoranz. Die Lösungen liegen vor uns, aber wir wollen sie nicht sehen. Der Ministerpräsident fragt, wie der Westen das Sicherheitsproblem in Bergwerken gelöst hat, und zieht hierfür den Westen des 19. Jahrhunderts heran. Dieser Regierung – trotz der Privatisierung der Bergwerksindustrie hat hier das Energieministerium das Sagen – sind die Menschen gleichgültig, die sie unter Tage einen der schwersten Jobs der Welt tun lässt. Ihr Denken ist nicht das Denken der EU, erst recht nicht ihre Reaktionen nach der Katastrophe, als sie Anwälte festnehmen ließ und die Polizei gegen protestierende Bergleute einsetzte. Und mit der EU wäre ein solches Unglück nicht passiert? Die Beitrittsverhandlungen sind für die Türkei die einzigartige Gelegenheit, von den Erfahrungen aus 28 Ländern zu profitieren. Ein Know-how-Transfer. Aber dafür muss man bereit sein, dieses Know-how zu übernehmen. INTERVIEW: DENIZ YÜCEL