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Archiv-Artikel

Radioaktive Spuren in Beresowskis Büro

Nach dem Tod des ehemaligen russischen Agenten Litvinenko findet die britische Polizei Rückstände von Polonium-210 in zwei Büros in London. Wie der Stoff dort hingelangt ist, ist unklar. Premier Tony Blair verspricht „rückhaltlose Aufklärung“

VON RALF SOTSCHECK

Die britische Polizei hat Spuren von Polonium-210, mit dem der Kremlkritiker Alexander Litvinenko in London vergiftet worden ist, im Büro des russischen Milliardärs Boris Beresowski gefunden. Auch in den Büros der Sicherheitsfirma Erinys im Londoner Westend wurden Rückstände des Isotops gefunden. Antiterrorismus-Einheiten der Polizei haben beide Gebäude gesperrt.

Ein Sprecher von Erinys sagte, er habe selbst die Polizei verständigt, weil Litvinenko das Büro besucht habe, kurz bevor er krank geworden sei. Beresowski sagte, er möchte die Kontaminierung seiner Büroräume nicht kommentieren. „Ich weiß nichts über Polizei in meinem Büro“, sagte er.

Beresowski war einer der ersten Milliardäre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Er machte sein Geld unter Boris Jelzin vor allem mit Aktien von Autofirmen und Öl, zerstritt sich aber mit Putin und floh Ende der Neunzigerjahre nach Großbritannien, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde. Möglicherweise hat Litvinenko, der vorigen Donnerstag nach dreiwöchigem Todeskampf gestorben ist, am Tag seiner Vergiftung Unterlagen im nahe gelegenen Büro Beresowskis fotokopiert.

Der 43-jährige Litvinenko hat sich am 1. November zunächst mit Andrei Lugovoy, einem Ex-KGB-Agenten, und mit dem Moskauer Geschäftsmann Dmitry Kovtun im Londoner Millenium-Hotel getroffen. Am Nachmittag besuchte er mit dem italienischen Spionageexperten Mario Scaramella eine Sushi-Bar am Piccadilly Circus. Scaramella soll ihm bei dieser Gelegenheit Informationen über die Mörder der regimekritischen russischen Journalistin Anna Politkowskaja gegeben haben. Danach ging Litvinenko nach Hause. An den drei Orten, vor allem in der Sushi-Bar, wurden Rückstände von Polonium-210 gefunden. So weit die Fakten, die durch die Aufzeichnungen von Sicherheitskameras bestätigt wurden. Weitere Informationen erhoffen sich die Ermittler nun von der Obduktion der Leiche Litvinenkos, die für Freitag angesetzt ist.

Über die Hintergründe von Litvinenkos Tod gibt es zahlreiche Theorien, die so abenteuerlich wie der Fall selbst sind. Litvinenko hat, als er im Sterben lag, Russlands Präsidenten Wladimir Putin der Tat beschuldigt. Lord Rea, Oberhausabgeordneter der Labour Party, hat ausgesagt, Litvinenko habe ihm kurz vor seiner Vergiftung erzählt, dass er sich ziemlich sicher sei, wer die regimekritische russische Journalistin Anna Politkowskaja ermordet habe.

Darüber hinaus soll Litvinenko Hinweise zur systematischen Verfolgung von Mitarbeitern des Ölkonzerns Yukos durch die russische Regierung gesammelt haben. Mehrere Menschen aus dem Unternehmensumfeld seien vermisst, unter ungeklärten Umständen verstorben oder säßen im Gefängnis. Gennady Gudkow, ein ehemaliger FSB-Agent, glaubt nicht, dass frühere Arbeitgeber hinter dem Mord steckt. Agenten höheren Kalibers seien schließlich noch am Leben. Gudkow meint, Litvinenko sei wegen Streitigkeiten „im Kreis um Beresowski“ umgebracht worden. Es liege in dessen Geschäftsinteresse, Russland zu diskreditieren und einen Märtyrer zu schaffen.

Russische Zeitungen spekulierten hingegen über Selbstmord. Die britische Polizei hat dieser Theorie Auftrieb gegeben, weil sie die Möglichkeit ausdrücklich nicht ausschließt, nach wie vor von einem „ungeklärten Todesfall“ spricht, und erklärte, Litvinenkos Aussagen seien zweifelhaft. Dennoch kündigte der britische Premier Tony Blair gestern an, den Fall rückhaltlos aufzuklären: Für die Ermittlungen gebe es „keine diplomatischen oder politischen Beschränkungen“. Wenn nötig, werde er persönlich mit Putin über den Fall sprechen.