: „Das Kind soll weinen, wenn es weggeht“
ERSATZELTERN In Westafrika tauschen Familien ihre Kinder. Die Anthropologin Erdmute Alber erforscht das Gesellschaftsmodell – und wurde selbst zur Pflegemutter
■ Wer: Erdmute Alber, 47, Professorin für Sozialanthropologie in Bayreuth, lebte seit 1992 insgesamt drei Jahre in der Republik Benin. Sie ist Mutter zweier Töchter.
■ Wo: Alber hat in dem Dorf Tebo in Nordbenin gelebt, wo ungefähr 800 Menschen wohnen. Die meisten sind Bauern, die für den Eigenbedarf anbauen und versuchen, den wenigen Überschuss auf Märkten zu verkaufen. Sie leben in Lehmgehöften ohne Strom.
■ Was: Albers Forschungsthema ist die soziale Elternschaft. In Nordbenin werden Kinder im Alter von etwa drei Jahren in Pflegefamilien gegeben.
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
taz: Frau Alber, in Deutschland denken die meisten beim Wort „Familie“ an Vater/Mutter/Kind. Was für Familienmodelle sind Ihnen dagegen in Afrika begegnet?
Erdmute Alber: Das Kleinfamilienidyll, das sich bei uns im 19. Jahrhundert etablierte, hat frühere Familienbeziehungen hinweggefegt. Solche, wo Großeltern, Tanten und Onkel, Neffen und Nichten, auch Knechte und Mägde im Haushalt dazugehörten. Wenn ich an Familie im ländlichen Afrika denke, meine ich solche Familienverbände. Familie ist immer durch ein Netz von Beziehungen geprägt; je größer das Netz, desto mehr Wahlmöglichkeiten gibt es. Familie ist bei uns mitunter so schrecklich, weil sie auf wenige Personen reduziert ist, von denen dann ganz viel erwartet wird.
Wehe, wenn es zwischen Eheleuten kracht …
… dann bricht alles zusammen. Familienbeziehungen sind bei uns emotional überfrachtet. Anderseits sind wir von einem bestimmten ökonomischen Druck befreit. Wer sich um seine Mutter kümmert, muss nicht unbedingt für sie zahlen. Während er in Afrika die Alten versorgen muss.
Über welches Familienmodell haben Sie in Benin geforscht?
Über die soziale Elternschaft. In Nordbenin wurden über Jahrhunderte die meisten Kinder im Alter von drei Jahren an Verwandte, bevorzugt Tanten, Onkel oder Großeltern, gegeben, bei denen sie als Pflegekinder aufwuchsen. Wobei Tanten und Onkel nicht nur die Geschwister der Eltern sind, sondern auch deren Cousins und Cousinen. Und der Großonkel kann auch ein Großvater sein. Es gibt Fälle, wo Kinder zu Nichtverwandten gegeben wurden, dann werden diese mit der Kindergabe zu Verwandten.
Entscheiden also die Familien, wer verwandt ist?
Verwandtschaft ist konstruiert – das ist eine Kernthese in der neueren Verwandtschaftsforschung. Wenn Menschen darin übereinstimmen, dass jemand verwandt ist, dann gibt es das Verwandtschaftsverhältnis. Oder anders: Wenn Sie und ich der Meinung sind, dieses Kind hier ist mein Kind, dann ist es auch mein Kind. Das bedeutet aber, dass Verwandtschaft immer veränderbar ist. Ein Beispiel: Die Frage, ob der Cousin vierten Grades als Verwandter angesehen wird oder nicht, ist umstritten.
Es gibt ja auch kein Wort für einen Cousin vierten Grades.
Wenn Sie aber feststellen, dass ihr Nachbar ein Verwandter vierten Grades ist, könnten sie diesen bei einer Begegnung mit Freunden als Ihren Cousin vorstellen.
Sie haben in Benin in einem kleinen Dorf gelebt.
In Tebo, einem Dorf der Baatombu. Weil niemand dort Französisch spricht, lernte ich ihre Sprache – Batonum heißt sie.
Wie muss man sich das Dorf vorstellen?
Die Leute wohnen in Lehmgehöften ohne Strom und fließendes Wasser. Es gibt eine starke Abwanderung. Schulkinder verlassen das Dorf, wenn sie auf weiterführende Schule wollen, und kommen oft nicht mehr zurück. Aber fast alle in diesem Dorf wurden in Pflegschaft gegeben.
Und die Pflegeeltern gelten dann als die richtigen Eltern?
Viele Kinder wissen nicht, dass die Eltern, bei denen sie aufwachsen, nicht ihre leiblichen Eltern sind. Sie waren zu klein, als sie weggegeben wurden. Obwohl ich nicht richtig glaube, dass sie es nicht wissen, denn sie leben ja in einem Dorf, in dem es normal ist, dass Kinder weggegeben werden. Auf jeden Fall erfahren sie, wer ihre leiblichen Eltern sind, wenn sie erwachsen werden.
Wie haben Sie gemerkt, dass es dieses Pflegschaftssystem gibt?
Nur indirekt. Öffentlich spricht man nicht darüber. Jeder ist bemüht, seine Pflegekinder als die eigenen darzustellen. Bei meinem ersten Aufenthalt habe ich in einem Gehöft gelebt, ohne je rauszufinden, wer die leiblichen Eltern der beiden Kinder sind.
Gibt es Regeln für das System?
Ein paar flexible Regeln gibt es. Das erste Kind gehört idealerweise der Schwester des Vaters. Das zweite Kind gehört idealerweise der Frau, die die Mutter aufgezogen hat. Sie verliert die Pflegetochter an den Ehemann, erhält dafür aber als Gegengabe das zweite Kind. Eine Frau, die sehr alt wird, kann so mehrere Generationen von Kindern aufziehen. Kinder sind übrigens nur an eine Bezugsperson gebunden. Mädchen werden in der Regel zu Frauen gegeben und Jungen zu Männern. Bei Scheidungen, die häufig vorkommen, ist es sehr entlastend, wenn Eltern keine gemeinsamen Kinder haben.
Wie muss man sich das Weggeben vorstellen?
Die Initiative geht meist von der Person aus, die ein Kind annimmt. Wenn es ein Jahr alt ist, bittet sie um das Kind und kleidet es ein. Damit signalisiert sie, dass sie Verantwortung übernimmt. Den Normvorstellungen entsprechend dürfen die Eltern die Bitte nicht abschlagen. Dann wird gewartet, bis das Kind abgestillt ist und das nächste geboren wurde. Ist es da, kommt die Person und holt das ältere Kind ab. Dazu gehört, dass das Kind weinen soll, wenn es weggeht. Weinen drückt den Übergang aus.
Sind die Kinder auf den Übergang vorbereitet?
Oft wird dem Kind erst am Abschiedstag gesagt, heute kommt deine Mutter. Im Gegensatz zu unseren Vorstellungen wird davon ausgegangen, dass es dem Kind nicht schadet, wenn es weggegeben wird. Ich glaube inzwischen, dass die gesellschaftliche Vorstellung, was normal ist, auch die Normalität setzt. Wenn wir aufhören würden, zu sagen, der Wechsel von Bezugspersonen schadet einem Kind, wäre es für Kinder auch nicht so dramatisch, wenn sich etwas am Familienverhältnis ändert.
Aus unserer Sicht ein Albtraum, als Kind vertauscht zu werden.
Dieser Albtraum zieht sich durch die Märchen. Bei uns ist es so ungemein wichtig, zu wissen, wo man herkommt. Und es herrscht zugleich die Vorstellung, dass die Herkunft ständig bestätigt werden muss.
Weil an Herkunft Ausgrenzungsthemen gebunden sind.
So ist es. Bei den Baatombu-Kindern ist die Frage, wo sie herkommen, auch wichtig. Man soll schon wissen, wer die Eltern sind, aber das wird erst im Lauf des Lebens bedeutsam. Etwa werden Häuptlingspositionen an leibliche Kinder weitergegeben. Aber es ist überhaupt nicht wichtig, dass man bei den leiblichen Eltern aufwächst.
Wie groß ist die Region, wo dieses Pflegschaftsmodell gilt?
Im Nordbenin leben etwa 600.000 Leute. Allerdings ist die Kindspflegschaft in Westafrika generell weit verbreitet. Man geht davon aus, dass bis zu einem Drittel aller westafrikanischen Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern lebt.
Wo sind die Mütter, wenn die Kinder abgeholt werden?
Oft verziehen sie sich in den Wald oder aufs Feld, um nicht zu zeigen, dass es ihnen nahegeht.
Gibt es demnach so was wie universelle Muttergefühle?
Was heißt es, eine gute Mutter zu sein? Bei uns heißt das auf jeden Fall, mit dem Kind zu leben. Eine Mutter, die ihr Kind weggibt, gilt als Rabenmutter. Bei den Baatombu kann ich mit Müttern sehr gute Gespräche darüber führen, wie stolz sie sind, wenn eins ihrer Kinder es auf die Uni schafft und sie dazu beigetragen haben, indem sie das Kind in eine so fördernde Familie gegeben haben. Dann fühlen sie sich absolut als gute Mutter. Auch wenn sie jahrelang keinen Kontakt zu diesem Kind hatten.
Sie haben selbst einen Jungen angenommen. Haben Sie ihm gegenüber Muttergefühle?
Inzwischen ja. Er ist jetzt Student. Er kommt aus einem armen ländlichen Haushalt, und er ist mit meiner Hilfe in einem städtischen Haushalt bei Freunden von mir untergebracht worden. Ich habe seine Schulausbildung gesponsert. Deshalb wird er als mein Sohn angesehen. Er selbst sagt immer, er habe drei Mütter: seine leibliche Mutter, seine Pflegemutter und mich.
Wie äußern sich Ihre Muttergefühle ihm gegenüber?
Wunderbar ist, wenn er mich am Flughafen abholt. Es ist ein viel stärkeres Gefühl von Zuhause. Es ist natürlich auch eine Verantwortung, die ich da übernommen habe, die mehr ist als eine Patenschaft von terre des hommes. Gewissermaßen bin ich auf eine afrikanische Weise seine Mutter, und zwar in dem Sinne, dass sich Liebe und Zuwendung durch materielle Gaben ausdrücken. So wird das auch von Kindern interpretiert. Wenn ich frage, ob ihre Pflegeeltern gut sind, sagen sie: Ja, der hat mir das gleiche T-Shirt gekauft wie dem leiblichen Sohn.
Sie arbeiten an so einer Schnittstelle, wo entschieden werden muss, ob Muttergefühle etwas Biologisches sind oder eine soziale Konstruktion.
Für mich ist klar: Es ist eine soziale Konstruktion. Ich behaupte, dass alles, was wir als Mutterliebe ansehen, eine gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung von Mutterliebe ist. Wir können nicht anders, als in diesen Vorgaben zu denken und zu empfinden.
Wirkt sich Ihre Forschung über Muttergefühle darauf aus, wie Sie Ihren eigenen Töchtern gegenüber fühlen?
Niemals hätte ich sie weggegeben. Ich bin auch zutiefst überzeugt, dass das Schaden angerichtet hätte, weil wir in dieser Gesellschaft leben. Aber Dinge sind wandelbar, und das Mutterbild hat sich ja im 20. Jahrhundert schon enorm geändert.
Warum ist das Pflegschaftsmodell in Benin entstanden?
Es gibt keine schriftlichen Quellen vor dem 19. Jahrhundert. Ich kann rekonstruieren, dass die Kinder damals schon weggeben wurden, ich kann aber nicht sagen, wann das anfing. Wenn etwas normal ist, stellt sich die Frage nicht, wann es angefangen hat. Wir erklären uns auch nicht, warum Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Es gibt aber ein paar Erklärungsansätze. Der eine ist, dass die Region im 19. Jahrhundert sehr kriegerisch war. Sklavenjagden gab es auch. Das Weggeben und Tauschen von Kindern schaffte Allianzen, die zu Befriedung und Sicherheit beitrugen.
Das Kind als Friedenspfand?
Das gab es früher auch in Herrschaftshäusern in Europa, dass Kinder als Friedensgabe weggegeben wurden.
Passt das Jesuskind – Friedensbringer und Sohn Gottes, nicht Sohn Josefs – in das Modell?
Es gibt im Alten und im Neuen Testament einige Geschichten, die dazu passen. Moses im Weidenkörbchen etwa. Er wird ausgesetzt und wächst am Hofe des Pharao als Pflegekind auf. Der Pharao nahm ein Kind an, das beschnitten war – seine jüdische Herkunft war damit deutlich. Thematisiert wird also, dass ein Kind nicht bei seinen leiblichen Eltern aufwächst und dass das in einem politisch höchst brisanten Kontext geschieht.
Wie kommen wir von dort wieder zur Gegenwart?
Der Unterschied zwischen traditionellen Gesellschaften und den modernen, so eine These in der Anthropologie, liegt darin, dass früher Kinder getauscht wurden und man um die Beziehung wusste, während man heute Kinder weitergibt, etwa durch Adoption, und dabei die Verwandtschaftsverhältnisse kappt.
Warum?
Da sind wir wieder bei unserer heiligen Kleinfamilie, die zementiert werden muss.