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Archiv-Artikel

Der Geräusche-Sammler

„Es geht mir um lange Prozesse, die ich durch Kollagen verkürze, auf den Punkt bringe“

VON MANFRED GÖTZKE

Es beginnt mit einem Knall. Danach ein kurzer Moment Stille, dann Ächzen, Knarzen, zehn Sekunden lang. In Richard Ortmanns Arbeitszimmer stürzt ein Kühlturm in sich zusammen. Akustisch. Ortmann springt von seinem Regiestuhl, läuft zum Kassettenrecorder auf dem Schreibtisch und stoppt den Zusammenbruch. „Kühlturm-Sprengung in Castrop-Rauxel, bin ich letzten Sonntag gewesen. Ging ein ganzer Vormittag für drauf“, sagt er, zieht die buschigen Augenbrauen hoch, seine Stirn kräuselt sich zwei Sekunden lang. Dann nimmt er die Kassette aus dem Recorder, legt sie zurück in den Karton und schlurft zurück zu seinem Stuhl.

Der Klang des Ruhrgebiets lagert auf dem Dachboden einer ehemaligen Grundschule in Dortmund-Neuasseln. In 20 schwarzen Papierkartons, auf gut 70 Digitalkassetten. 4.000 Stunden Geräusche. Der Sammler Richard Ortmann lebt oben in der Hausmeisterwohnung der Schule, die heute ein Kulturzentrum ist. Eigentlich ist er Musiker, Jazzer, spielt Schlagzeug, Klavier und Saxophon. Er ist kaum 1,70 Meter groß, zierlich, trägt schwarze Jeans und Fleeceshirt, kurze schwarze Haare. Er ist fünfzig Jahre alt, sieht aber aus wie Mitte dreißig. Seit 1980 sammelt er die Geräusche des Reviers. Damals hat er für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) Radiojingles produziert und Geräusche für Hörspiele zusammengestellt. „Musikhandwerk für die Miete“, sagt er dazu. Für ein Hörspiel sollte Ortmann eines Tages Werkstattatmosphäre einfangen. „Ich bin dann zu irgendeinem Innenhof in der Dortmunder Nordstadt gegangen und hab die beim Hämmern aufgenommen“, sagt er. Ortmann spricht schnell, nach ein, zwei Sätzen macht er eine längere Pause. Luftholen. Dann wieder eine Wortkaskade wie ein Saxophonlauf.

Zurück beim WDR merkte Ortmann, dass die Aufnahmen nichts taugten. Als er ein paar Tage später wieder hinging, hatte die Werkstatt dicht gemacht. „Da hat mich son‘ Schlag getroffen“. Ortmann streckt die Beine durch und zupft sich die kurzen, tief schwarzen Haare. „Ich hab‘ mir gesagt, in ein paar Jahren sind all die Geräusche weg. Was jetzt noch läuft, musst du aufnehmen und konservieren.“ Wozu er die Geräusche gebrauchen könnte, wusste er damals noch nicht.

Es scheppert, es knarzt, im Hintergrund dröhnt etwas. Tief und dumpf. Dazu ein monotones Sirren. Die Geräuschkulisse eines Thrillers. Richard Ortmann steht am CD-Player auf dem Schreibtisch. Gerade hat er sein Hörspiel „Einmal Herne und zurück“ aufgelegt. Vor zehn Jahren hat er das 40-Minuten-Stück produziert, aus nichts als seinen Ruhrgebietsgeräuschen. Er kommentiert den Beginn des Hörspiels. „Das ist der Förderkorb der Zeche. Wir wühlen uns durch die Tiefe nach Herne rein.“ Wir hören uns weiter bis ganz nach vorn ins Flöz.

Hier reicht Ortmann das Bild im Kopf nicht aus, das seine Geräusche zeichnen. Der kleine Musiker springt von seinem Stuhl, kriecht unter den Schreibtisch und breitet seine Arme aus. „So schmal ist das da unten, keine 70 Zentimeter breit.“ Auf der CD geht es weiter durch die Herner Unterwelt, doch Ortmann erzählt schon von Stahlwerken. „Bei Hoesch hab ich aufgezeichnet, hier in Dortmund, an allen drei Standorten.“ In den 80ern hat er dokumentiert, wie flüssiger Stahl aus dem Hochofen strömt, hat sich von schwitzenden Arbeitern erklären lassen, wie das geht, Stahlkochen. In einem Taubenschlag in Herne war er, in einer Muckibude und beim „Curryheini“ in Waltrop. Er hat mit seinem Aufnahmegerät an Eckkneipen gestanden und an Trinkhallen, war auf einem Ausflugsdampfer auf dem Dortmund-Ems-Kanal.

Vor zwei Jahren war er dann wieder mal bei Hoesch in der Dortmunder Nordstadt. Zum letzten Mal, als die Chinesen das Werk demontiert haben, für den Neu-Aufbau in Südchina. Wenn demnächst eine Dortmunder Delegation nach Shagang reist, will er unbedingt mit. „Der Kreis schließt sich in China, super Geschichte.“ Ortmann sieht sich selbst als Langzeitbeobachter des Strukturwandels. „Es geht mir um lange Prozesse, die ich durch Kollagen verkürze, auf den Punkt bringe.“

Mitten im Gedanken erhebt er sich von seinem Regiestuhl in der Mitte des Zimmers, geht wieder zum Schreibtisch, dreht die Anlage lauter. Vogelzwitschern auf der CD mischt sich mit dem Geschrei von Wildgänsen, das vom offenen Dachbodenfenster ins Zimmer dringt. Ortmann dreht sich zur Zimmermitte, die Hand noch am Lautstärkeregler und kommentiert: „Hörst du? Wir sind wieder oben, verlassen jetzt die Zeche – und gehen zur Kultur.“ Eine Blaskapelle nähert sich, Marschmusik spielend, dann kommt ein Schrotthändler um die Ecke gefahren, pfeift eine Erkennungsmelodie.

Er trauert ihm nicht nach, dem alten Ruhrpott mit Kohle und Stahl, den er vor der Abwicklung auf seine Digitalkassetten bannt. „Es war auch wirklich dreckig hier“, sagt er. Ortmann zögert, zupft sich wieder am Haar. „Ich seh den Strukturwandel mit einem lachenden und einem weinenden Auge.“ Wunderbar findet Ortmann, dass Industriekathedralen wie Zeche Zollverein zu Kulturzentren wurden. Er profitiert davon. 1996 hat das erste Museum angefragt, das Bergbaumuseum der Zeche Zollverein. „Die hatten zwar die Fotos, die hatten die Geräte, die hatten aber nicht die Geräusche.“ Seit ein paar Monaten wird auch im Landschaftspark Oberhausen wieder gehämmert und gedreht, da wo früher Hütten und Fabriken standen. Hinter ein paar Büschen sind Lautsprecher versteckt, aus denen Ortmanns Geräusche kommen.

In den Achtzigern hat er dokumentiert, wie flüssiger Stahl aus dem Hochofen strömt

Dass die Klänge bald nur noch vom Band laufen, findet der Sammler schon ein wenig schade. „Früher hat‘s hier in Dortmund schon mal mitten in der Nacht geknallt, weil irgendwo im Werk ‘ne Stahlplatte umgefallen ist“, erzählt er. Heute hört man Autos, alle zehn Minuten rauscht ein Flugzeug über die alte Grundschule hinweg: der gleiche Lärm wie in jeder anderen Großstadt. „Das merkt man aber auch an der Sprache, sagt er. „Der Dialekt verschwindet.“ Wenn ihn Radiojournalisten interviewen, spricht der Musiker deshalb möglichst platt.

Richard Ortmann ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nur ein Jahr lang hat er nicht hier gelebt. Nach der Schule, die er vorzeitig abgebrochen hat, trampte er mit seinem Saxophon im Gepäck durch die USA. „Da kam dann sowas wie Identifikation. Wenn du in der Fremde bist, fallen die Scheuklappen.“ Anschließend zog er dann von Herne nach Dortmund, machte eine Kneipe auf, in der Kampstraße. Die erste Genossenschaftskneipe in Dortmund, sagt er. Als er ein paar Jahre später erfuhr, dass eine Grundschule in Neuasseln abgerissen werden sollte, hat er mit zwei Freunden ein „Nutzungsänderungskonzept“ bei der Stadt eingereicht.

Seitdem ist die Schule eines von zehn unabhängigen Kulturzentren in Dortmund. Ortmann lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen in der Hausmeisterwohnung. Die alte Turnhalle ist jetzt Proben- und Bühnenraum, mehr als 70 Leute kommen jede Woche, mehrere Bands, eine Improvisationstheatergruppe. Von den Musikern haben die meisten irgendwas mit Ortmann zu tun. Der Saxophonist und Schlagzeuger hat fünf Bands gegründet, mit den meisten macht er heute immer noch Musik. Vor neun Jahren erfand er dann noch das Schrottophon, eine Art selbst gebasteltes Schlagzeug aus Sperrmüll und alten Blechteilen. Hin und wieder packt er es in den Anhänger und baut es in Grundschulen wieder auf, um mit Viertklässlern darauf rumzuhauen.

In einer Klarsichthülle auf dem Schreibtisch liegen die nächsten Geräusche. Auf Notizzetteln stehen in verschnörkelter Schrift Stichpunkte: Kamener Kreuz, Max-Moschee Duisburg, Warteschleife. Unter den Zetteln liegt ein vergilbter Artikel aus einer Lokalzeitung, über Planungen der Zeche Donar. „Seit 20 Jahren nehme ich auf, wie die Zechen dicht gemacht werden, und jetzt soll da eine neu gebaut werden, das ist schon seltsam“, sagt Ortmann. Er war schon mal da, auf dem Kohlefeld Donar, nördlich von Hamm. Heute ist da nichts als ein Acker. Er hat seinen Dat-Recorder rausgeholt und auf record gedrückt. Man hört den Wind und ein paar Krähen.