: Die Zeitmaschine Kino und du
So, und jetzt habe ich Zeit (III): Es gibt einen Ort, der dir Zeit schenkt, ohne dass du groß etwas dafür tun müsstest. Das Kino. Hier läuft Zeit nicht einfach ab, sondern sie verhält sich. Zu dir. Und das fast unabhängig vom gezeigten Film. Sperr dich nicht!
■ Zeitmangel: Wer kennt ihn nicht? Er ist Effekt von und Voraussetzung für eine Dynamik, die alle sozialen Verhältnisse unter das Vorzeichen der Wertschöpfung stellt. Grund genug für eine Artikelreihe. Denn: Wann hört das auf und was passiert dann? Was passiert mir, wenn ich mir keine Zeit nehme, sondern sie habe?
VON DIETRICH KUHLBRODT
Ja, und wie mach ich das jetzt: Zeit haben und nicht stehlen? Oder kann ich sie doch irgendwo mitgehen lassen? Gibt es Zeitdiebe im Supermarkt? Bei Tchibo? Es gab ihn doch schon bei uns, den Tagedieb. Seinerzeit wusste er, wo und wann und wie man das macht, Tage zu klauen. Warum ist er unzeitgemäß geworden? Weil die Zeitressourcen erschöpft sind? Weil man in freier Natur nichts mehr findet?
Sollte es sich beim ewigen Zeitmangel um einen Rationalisierungsschaden handeln, dann ist die Zeit wenigstens nicht dahin. Dann tummelt sie sich jetzt auf dem Markt. Und ich kann ein bisschen Zeit aufwenden, um mir die Zeit zu kaufen, so zwischen 90 Minuten und dreieinhalb Stunden, ich werde das gleich erläutern. Preislage: zwischen 12 und 29 Euro. Also rasch das Sparticket für die Bahn erworben, und dann die dreieinhalb Stunden von Hamburg nach Frankfurt am Main im Zug sitzen. Das Handy geht in der Lüneburger Heide nicht und auch sonst nicht. Rausgucken oder, am Freitagnachmittag, vor dem Klo auf dem Gang sitzen und wegdösen. Manchmal bleibt der ICE stehen. Ein Arzt wird gesucht. Ein Not- und Eilfall. Es ist egal. Irgendwann wird es weitergehen.
Eine andere Methode, Zeit zu konsumieren, ist, das Buch aufzuschlagen, das man mitgenommen hat. Gern ein langweiliges, denn woanders würde man es nie und nimmer lesen. Und meistens klappt es: Fahr- und Lektürerhythmus finden zueinander. Das ist der Augenblick, der dauert.
Wer Frankfurt am Main nicht so toll findet, kann bleiben, wo er ist, bloß ein Kino muss da sein. Zwölf Euro also für die Karte, viel Geld für anderthalb Stunden, und wieder klingelt das Handy nicht. Denn selbstverständlich ist es ausgestellt, und dann ist nichts anderes zu tun, als da zu sein und sich zu öffnen. Ist die Zeitware ohne Mängel, müsste es hinhauen. Sperr dich nicht! Lass es einfach geschehen! – Und? Hast du deinen Rhythmus mit dem des Films zusammengebracht? War die Einstimmungsphase arg lang gewesen? Hast du daran gedacht, aus dem Kino rauszugehen? Das wäre sehr schade.
Lass uns überlegen, welche Fehlerquellen verhindern, dass man in den richtigen Rhythmus kommt. Hast du dir vielleicht eine DVD gekauft? Oder etwas runtergeladen, bist vorm Monitor ungeduldig geworden und hast die Bildgeschwindigkeit hochgeschaltet? Von 2 : 1 zu 10 : 1? Und nebenher hast du was geredet oder was genommen? Das Handy surrte? – Das ist alles wenig günstig für das Zeiterlebnis. Kehren wir also zurück ins Kino.
Vielleicht bist du ja auch Filmkritiker? Dann hast du die Zeit gar nicht erworben, denn Pressevorstellungen sind gratis, und du musstest dein Geld nicht absitzen. Trotzdem geht man aus dem Kino nur im Notfall raus (aus dem ICE nicht mal dann).
Kommen wir nun zu deinen Einwänden. Erster Einwand: Ich hab nur meine Zeit vergeudet. Ich sah den Film. Ich habe seine Argumentation überprüft. Ich habe sie nicht nachvollziehen können. – Diagnose: Schwerer Rhythmusschaden, aber Therapieeinsicht. Du bist es, der vergeudet, was sich andere teuer erkaufen. Du bist Pädagoge oder Intellektueller, und ich muss Sie zu dir sagen. – Abhilfe: Statt dich selbst zu prüfen, ob du was nachvollziehen kannst, lass dich erstmal auf etwas anderes ein, das dir netterweise Zeit gibt. Teste an, ob der Film vielleicht gar keine Argumentation und Botschaft rüberbringen will. Vielleicht will er etwas von dir persönlich. Von deinem Körper. Sperr dich nicht! Das Vorhaben ist sowohl kulturwissenschaftlich als auch erfahrungswissenschaftlich gedeckt.
Nächster Einwand: Das Filmerlebnis war scheiße. Es ging mir auf den Geist. Ich fühlte mich körperlich missbraucht. – Diagnose: Du hast es geschafft. Du hast dich eingelassen. Du hast eine Zeit lang ein intensives Erlebnis gehabt. Der Frust wird dich ein Weilchen begleiten, aber nicht davon abhalten, gleich wieder ins Kino zu gehen. Denn du hast dein Sexleben ja auch nicht nach der ersten Enttäuschung aufgegeben.
Weiter geht’s: Komm, wir machen weiter mit den „frequently asked questions“ (Faq)! Wie vermeide ich Rhythmusstörungen? Welcher Film passt zu mir? – Diagnose: Du meidest Abenteuer. Du liest Kontaktanzeigen. Du hörst auf Filmkritiker. Du bist therapiebedürftig. Du musst dir selber helfen. Medikation bringt da nichts. – Abhilfe: Lies nie, was ich über Film schreibe. Geh ins Kino. Just do it! Try and error, und genieß die Zeit. Genuss mit oder ohne Reue, egal.
Faq 3: Fuck, wie schütze ich mich? – Gute Frage. Niemals ins Kino gehen, wenn im Filmtitel die Zeit vorkommt (das ist bei weit über hundert Stück der Fall). Beispiel: „Zeit zu leben – Zeit zu lieben“ von Douglas Sirk von 1958. Der Film lief auch unter dem Titel „Zeit zu leben – Zeit zu sterben“ sowie „Zeit zu lieben und Zeit zu sterben“. Er erzählt die sattsam bekannte Geschichte von einem Paar, das aus Termingründen keine Zeit füreinander hat. Dieser Film ist nicht zu verwechseln mit „Zeit zu sterben“ von Matt Cimber, der 1983 in den USA gedreht wurde. Es ist ein Folterfilm, der gerade deswegen anwidert, weil er betulich zeitgeschichtlich daherkommt. Und bitte diesen Zeitfilm nicht verwechseln mit „Zeit zu sterben“, der im letzten DDR-Jahr lief, aber eigentlich „Zeit der Rache“ heißt („Tiempo de morir“) und sich arg von der gleichnamigen österreichischen „Zeit der Rache“ unterscheidet. Alles klar? Bist du mitgekommen? Nein? Egal. So sorgfältig du dich auch vorher informierst, immer wird hier das Ergebnis sein, dass Zeit bedeutet: Sie läuft ab, und du hast sie nicht bekommen.
Faq 4: Also noch mal unter Brüdern: Was soll ich mir im Kino angucken? – Antworten lässt sich hier, dass ein Film, der auf das setzt, was „in tune“ mit der Zeit ist, voll im Trend liegen mag, aber schon das Verfallsdatum auf der Spule hat. Die Mode, das ist das unerbittliche Gesetz des Markts, wechselt. Was aber nicht wechselt, ist der Ort, an dem ein Film läuft. Ich steh auf Kinos. Jedenfalls auf die, die Charakter, Aura, Wärme und Haltung haben. Bei den Programmen mag ich am liebsten die, die etwas Unzeitgemäßes mitbringen. Etwas Verqueres – Filme, die leicht daneben sind, aber wach und meinetwegen frech. Fuck, du hast mich mit deiner Frage verführt. Was ich antworten wollte, sollte auf keinen Fall ein Manifest werden.
Faq 5: Komm, hör schon mit dem Kino auf! Nenn mir lieber ganz konkret ein positives Beispiel für einen guten Unzeit-Film! – Eigendiagnose: Ich bin in der Klemme. Es geht zwar gut, sich über die Sinne, und dass man ihnen vertrauen sollte, in die Euphorie zu schreiben. Aber einen Film beim Namen zu nennen, hieße zu begründen, weshalb er gut geworden ist, und damit sind wir vom Kino, von der Wahrnehmung und der Erfahrung ganz weit weggekommen und im filmwissenschaftlichen Seminar angelangt, bei der Filmanalyse und bei meinen sicherlich tiefenanalytisch begründeten Aversionen dagegen.
Im Seminar tickt die Uhr, auch dort läuft die Zeit ab, im Kino muss das nicht sein, hier kann sich die Zeit verhalten, und das ist das bessere Gefühl. Ich würde so weit gehen und sagen, dass ich mich subjektiv und gefühlsmäßig anmachen lasse vom Rhythmus eines Films und nicht von der objektiv zu sehenden und nachvollziehbaren Montagekunst. Ich will nicht unbedingt erheitert werden, wohl aber involviert. In einen Film von Aki Kaurismäki zum Beispiel, der mich nicht erhebt, aber der da ist, momenthaft und stark, selbst wenn es eine Geschichte gibt, die notwendigerweise zeitlich geordnet abläuft. Die Handlung ist hier aber eher eine kleine reizvolle Störung. Und es ist die Haltung, die dem Film Gewicht gibt und mir dazu. Aus dem Kinosessel komme ich nicht mehr hoch, auch wenn die Zeit rum ist. Mich hält etwas fest. Weil: Ich bin abgefüllt und habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich etwas hinter mir habe.
Wenn’s im Kino geklappt hat, spielt die Zeit keine Rolle und falls ich … Moment mal, ich verhaspel mich. Ja, klar: Ich muss zum Schluss noch zu meinen Identitäten kommen. Also als Filmkritiker bin ich, wie im Vorhergehenden bereits umständlich erläutert, im Kino eigentlich und objektiv gesehen falsch am Platz. Doch immer wieder habe ich unverschämtes Glück, so wie letztens in Larry Charles „Borat. Kulturelle Lernung von Amerika um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen“. In ihn ging ich als Jurist und fand mich dann vor der Leinwand sitzend ganzheitlich als zeitlosen Dietrich Kuhlbrodt wieder: ein Tagedieb mit fetter Beute und überhaupt nicht kriminell.