Damocles misst Eisschmelze am Nordpol

Bis 2080 könnte der Nordpol eisfrei sein. Ein flächendeckendes Messnetz soll nun für bessere Prognosen der Eisschmelze in der Antarktis sorgen. Der Wandel wird das Klimasystem bis in die Tropen hinein stören und weltweit Handelsströme umlenken

aus Bremen Armin Simon

Inuit, Robben und Eisbären schmilzt der Boden unter den Füßen weg. Minus 20 Prozent Meereis in den letzten 30 Jahren, so lässt sich auf Satellitenaufnahmen der nördlichen Erdkuppe erkennen. Aller Voraussicht nach wird sich die Eisschmelze in Zukunft beschleunigen. „Wenn sich der bisherige Trend fortsetzt, wird es bis 2080 im Sommer dort kein Meereis mehr geben“, sagt Christian Haas, Meereisexperte am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven.

Haas ist einer von etwa 120 WissenschaftlerInnen, die diese Woche in Bremen über eines der größten laufenden Arktis-Forschungsvorhaben diskutieren. „Developing Arctic Modelling and Observing Capacities for Longterm Environmental Studies“ haben sie es getauft, abgekürzt „Damocles“ – wie das Schwert, das am seidenen Faden drohend über dem Kopf hängt. Bis Ende 2009 soll ein flächendeckendes Netz an Messstationen beziehungsweise Sonden auf und unter dem Eis kontinuierlich Temperatur, Salzgehalt und Strömung des Wassers sowie die Eisdicke messen und übermitteln. Mit Hilfe dieser Daten, so die Hoffnung der WissenschaftlerInnen, ließen sich dann auch die genauen Einflüsse und Wechselwirkungen auf das arktische Klima erklären. Damit ließen sich langfristige Trends von kurzfristigen Schwankungen unterscheiden und erstmals genauere Prognosen machen.

Die sind bisher eher vage. Zwar weiß man, dass die Temperaturen in der Arktis in den letzten 30 Jahren um bis zu vier Grad und damit dreimal so stark wie im globalen Durchschnitt gestiegen sind. Zwar war die Eisfläche noch nie so klein wie im September 2005. Welchen Einfluss Luft, Wasser, Wind und Sonne aber tatsächlich auf das Schmelzen der Eismassen haben und warum welche Folgen daraus erwachsen, ist bisher weitgehend unklar. „Wir haben gute Rechenmodelle, aber keine Daten“, umschreibt Damocles-Gesamtkoordinator Jean-Claude Gascard von der Université Pierre et Marie Curie Paris das derzeitige ForscherInnen-Dilemma.

Die so gewonnenen Erkenntnisse, betonten Gascard und Haas, seien weit über wissenschaftliche Kreise hinaus von eminenter Bedeutung. Ändere sich das Klima am Nordpol, bedrohe dies nicht nur Lebensraum und Lebensgrundlage der Menschen, die in dieser Region lebten. Vielmehr führe das Schmelzen der Eismassen zu einer „Störung“ des Klimasystems weltweit – bis hin zu den Tropen. Unterbrochene Nahrungsketten bedrohten die Fischgründe im Nordmeer, Schmelzwasser könnte die Weltmeere um mehrere Meter ansteigen lassen. Und die kalten Wassermassen könnten die globalen Meeresströmungen durcheinanderbringen. „Das sind alles Dinge, die uns sehr schnell aktuell interessieren werden“, prognostizierte Gascard.

Im positiven Sinne interessant dürfte die Klimaentwicklung und damit die Packeiskarte der Zukunft dagegen für manche Wirtschaftsbranchen werden. Zieht sich das Eis zurück, wird das Nordmeer etwa wieder schiffbar. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einmal diese kurze Verbindung zwischen den Kontinenten. Sie könnte dafür sorgen, dass sich Handelsströme großräumig verlagern.

Auch der Abbau von Rohstoffen im Meeresboden, die derzeit aufgrund der widrigen Witterungsverhältnisse nicht zugänglich sind, wird in ganzjährig eisfreien Gebieten möglich. Deren Nutzung, sagen die WissenschaftlerInnen voraus, werde künftig „dramatisch zunehmen“. In Frage kommen dabei vor allem Öl- und Gasvorräte – deren Verbrennung den Treibhauseffekt weiter anheizen wird.