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Archiv-Artikel

Wenn das Heizen zum Luxus wird

Statistisches Bundesamt: 13 Prozent der Deutschen sind von Armut bedroht, Familien nicht stärker als Kinderlose. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen hungern. Aber die Waschmaschine darf nicht kaputtgehen und der Winter nicht zu kalt werden

Familien mit Kindern sind nicht häufiger von Armut bedroht als Kinderlose

VON COSIMA SCHMITT

Sie sitzen manchmal im Winter in einer ungeheizten Wohnung. Ferne Länder kennen sie nur aus dem Fernsehen. 13 Prozent der Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht. 1,7 Millionen Kinder leben in Haushalten, die jederzeit ins soziale Abseits gleiten könnten. „Wir wollen dazu beitragen, dass das bald anders wird“, sagte Walter Radermacher, Vizepräsident des Statistischen Bundesamts, der gestern die neue Studie „Leben in Europa“ vorstellte.

Jedes Jahr soll künftig EU-weit sowie in Norwegen und Island ermittelt werden, wie viele Menschen von Armut bedroht sind – und wie sich Transfers und Polit-Maßnahmen auswirken.

Der nun vorliegende erste Datenreport kann einige Klischees über Armut in Deutschland entkräften. So sind Familien mit Kindern nicht häufiger von Armut bedroht als Kinderlose. Sie sind sogar seltener gefährdet als die Gesamtbevölkerung. Das bedeutet zwar nicht, dass Familien besonders wohlhabend wären. Das Gros der Eltern, die drei oder mehr Kinder großziehen, hat weniger auf dem Konto als der Durchschnittsdeutsche.

Akut von Geldnot bedroht aber sind zwei andere Personengruppen: Mütter oder Väter, die alleine Kinder erziehen. Und Menschen, die ganz allein leben. Von beiden Gruppen hat fast jeder Dritte extrem niedrige Einkünfte.

Auch das Ost-West-Gefälle ist nicht so eindeutig, wie oft vermutet wird. Zwar sind Ostdeutsche mit 17 Prozent häufiger armutsgefährdet als Westdeutsche – dort sind es 12 Prozent. Dies gilt aber nicht für die Rentner. Jenseits der 65 müssen Ostdeutsche seltener Finanznöte fürchten als ihre Altersgenossen in Westdeutschland.

Die Studie liefert auch Angaben, inwieweit staatliche Transfers das Armutsrisiko senken. Gäbe es keine Sozialtransfers – also Wohngeld, Kindergeld und so weiter –, wären nicht 13, sondern 24 Prozent der Deutschen von Armut bedroht, fanden die Statistiker heraus.

Wie sich Hartz IV auf die Geldbeutel der Deutschen auswirkt, konnte die Studie jedoch nicht ermitteln. Sie basiert auf Daten von 2004. Im nächsten Jahr, so Radermacher, wolle man auch die Auswirkungen der Hartz-IV-Reformen auf die Haushaltseinkommen untersuchen.

Wann ein Mensch als „armutsgefährdet“ gilt, ist indes eine politische Konvention, keine umumstößliche Weisheit. Als Richtwert gilt, dass er weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das sind laut Studie in Deutschland 856 Euro für Alleinlebende und 1.798 Euro für eine Familie mit zwei Kindern. Wenn jemand als „armutsgefährdet“ gilt, heißt dies also nicht automatisch, dass er nicht genug Geld für Essen oder eine Kinokarte hat. Es sagt aber etwas über seine Finanzlage im Vergleich zu der seiner Landsleute aus. Die Forscher wollten daher nicht nur Kontostände erfassen, sondern auch die Sorgen und Nöte beleuchten. Wie lebt es sich diesseits der Armutsgrenze? Was ist noch finanzierbar, was wird zum Problem?

Die Studie zeigt, dass es weniger die alltäglichen Zahlungen sind, die gefährdete Menschen sich nicht leisten können. Das Problem liegt eher darin, dass die Ressourcen für außerplanmäßige Ausgaben fehlen. So sagte mehr als jeder Zweite der Armutsgefährdeten, er hätte Probleme, eine defekte Waschmaschine zu ersetzen. 22 Prozent gaben an, dass sie manchmal, um die Zuzahlungen einzusparen, nicht zum Arzt gehen. Eine Woche pro Jahr in den Urlaub zu fahren ist für 56 Prozent unerschwinglich. 14 Prozent drehen manchmal im Winter die Heizung ab, um Kosten zu sparen.

Die Studie belegt aber auch, was Bildungsexperten schon lange wissen: Kaum etwas schützt so gut vor Geldnot wie eine gute Berufsqualifikation. Zwar sichert auch ein Uni-Diplom nicht jedem ein gutes Einkommen. Doch ist von den Menschen, die eine Lehre oder ein Studium abgeschlossen haben, nur jeder zehnte von Armut gefährdet. Bei denen, die keinen Beruf gelernt haben, ist es jeder Vierte. Radermachers Fazit steht daher fest: „Arbeitslosigkeit und fehlende Bildungsabschlüsse sind die größten Armutsrisiken.“