: Kaspar Hauser in Vietnam
MUSIKTHEATER Pierre Oser probt derzeit für die Uraufführung seines Werks „Der durch das Tal geht“ in Hanoi. Für den Komponisten ist die Kooperation ein spannendes, aber nicht immer ganz leichtes Unterfangen
AUS HANOI JENNI ROTH
Er sieht ein bisschen aus wie Roger Moore, aber der würde in Hollywood nicht so echt schwitzen. Pierre Oser, Komponist und Musiker, rutscht der Zwicker mit dem Schweiß ein Stück die Nase runter. Er probt hier in Vietnam für sein Musiktheater „Der durch das Tal geht“. Es kommt am 14. Januar im Hanoi Opera House in Vietnam zur Uraufführung.
Von der Wand blicken Các Mác, wie Karl Marx auf Vietnamesisch heißt, und Lenin auf Oser nieder. Hier, in einem Schulzimmer im Westen Hanois, probt er Tankred Dorsts Libretto „Parzival – Der durch das Tal geht“, eine deutsch-vietnamesische Kooperation, Anlass ist das 35. Jahr diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern. Geldgeber sind das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut.
Es ist kurz nach neun Uhr am Morgen, der Raum hat sich aufgeheizt, eine Klimaanlage gibt es nicht, oder sie ist ausgefallen. Der Filz im Klavier saugt sich voll. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 86 Prozent, und bisher sitzen nur zwei Sänger auf ihren Plätzen. „Na ja, vielleicht kommen ja um zehn ein paar“, sagt Oser. Um Mitternacht hatte der vietnamesische Theaterchef den Sängern eine Nachricht geschickt, dass die Probe ausfalle. Keiner weiß so recht, warum. Oft sind Zuständigkeiten hier unergründlich oder nicht vorhanden. Eine Vietnamesin schickt gerade eine Korrekturnachricht hinterher.
Oser bleibt ruhig. Vor drei Jahren hat er hier „Der Besuch der alten Dame“ inszeniert. Damals fiel sogar eine Probe ganz flach, weil die Sänger kurzerhand abkommandiert wurden. Sie sollten beim Empfang eines ausländischen Ministerpräsidenten am Flughafen die Nationalhymne singen. Das passiert auch kurz vor Premieren immer wieder. „Es kommt schon vor“, sagt Oser, „dass Leute aus meiner Truppe für eine staatliche angeordnete Produktion abgezogen werden.“
Diesmal ist die Aufgabe noch anspruchsvoller als vor drei Jahren. Es gibt mehr Beteiligte, 120 insgesamt. Und es soll etwas ganz Besonderes werden. „Das Genre passt in keine Schublade“, meint Oser. „Dabei ist es Tanztheater im eigentlichen Sinne.“
Ritter werden zu Samurai
Im Stück wird getanzt, die Schauspieler sprechen Vietnamesisch, die Sänger singen auf Deutsch. „Ein Riesenabenteuer“, sagt Oser. Es gibt nicht viele im Stile der europäischen Tradition ausgebildete Künstler. Im Opernhaus von Hanoi hat es in den vergangenen Jahrzehnten gerade mal zwei Opernproduktionen gegeben, die „Zauberflöte“ und „La Bohème“. Klassische Musik hingegen gebe es sehr wohl – allerdings würden den Orchestern für Konzerte oft ausländische Dirigenten vorgesetzt, mit denen sie kaum ein paar Tage proben. „Am Ende rotzen sie die Stücke dann einfach runter, und man erkennt Vivaldi nicht wieder“, sagt Musikdirektor Oser.
„König“, einfach nur das Wort „König“ – gar nicht so einfach. „Deutsch ist so schwer!“, sagt Nga, 34 Jahre, zierlich, schwarze Haare. Sie soll die Mutter des Parzival spielen. Regie bei dem auf Jetztzeit getrimmten mittelalterlichen Stück führt Beverly Blankenship, die sonst unter anderem für das Wiener Volkstheater oder das Landestheater Salzburg arbeitet.
„Wir müssen die Geschichte der südostasiatischen Lebenswirklichkeit anpassen“, sagt Blankenship. Sie erinnert sich an die letzte Arbeit in Hanoi: „Damals hatten wir eine Szene, in der ein junger Mann nach einem Streit mit seinem Vater ein Glas zerschmettert und rausrennt. Die Leute fragten schockiert, warum der Sohn nicht bestraft werde!“
Telefonieren in den Proben
Ritter werden in Hanoi also zu Samurai, aber die Geschichte bleibt dieselbe: Parzival lebt mit der Mutter im Wald, der Vater wird im Kampf getötet. Da die Mutter nicht will, dass dasselbe Schicksal ihren Sohn ereilt, zieht sie ihn abgeschirmt von der realen Welt auf. Eine Art Kaspar Hauser für Vietnam.
„Viele der Menschen in Vietnam sind heute noch von Bildungsmöglichkeiten und Informationen über das Weltgeschehen abgeschnitten“, sagt Oser. Deshalb funktioniere Parzivals Orientierungssuche in Europa ebenso wie in Vietnam: Groß geworden, will der Sohn dem Vater nacheifern, kauft sich eine Rüstung, zieht in die weite Welt, lernt Tod und Leid kennen – und, natürlich, die Liebe.
Zehn Uhr. Tatsächlich haben ein Dutzend Sänger ihre Motorradhelme abgelegt und haben ihre Kinder mitgebracht. „An den meisten großen deutschen Bühnen warten die Schauspieler, die nicht an der Szene beteiligt sind, draußen – oder verhalten sich leise. Hier sind immer alle dabei. Sie essen, reden, telefonieren, gehen raus und wieder rein.“ Aber der Musikdirektor freut sich auf eine „lehrreiche Zeit“. Er will mit den Vietnamesen „auf Augenhöhe“ arbeiten. „Kammerspiel in Hanoi und zurück, das wäre leerer Kulturimport.“
Auch wenn er dafür ein beachtliches Maß an Fingerspitzengefühl mitbringen muss. „Das große Geheimnis hier sind die hierarchischen Kräfte“, sagt Oser und erzählt von der Steckerleiste: Bei den Proben vor drei Jahren sprach er zunächst den Techniker an. Der signalisierte vollstes Verständnis und schien sich auf den Weg zu machen. Nach weiteren Nachfragen, weiteren Versprechungen und einem weiteren Tag wird Oser klar, dass der Mann zwar Verständnis für seinen Wunsch hatte, aber keinen Befehl von seinem Vorgesetzten. Und solange dieser nicht erteilt wird, darf ein Techniker nicht aktiv werden. Also: ein Wort zum Chef, und fünf Minuten später ist die Steckerleiste da.
Auch das Einkaufen von Requisiten und Kostümen erfordert ein offizielles Prozedere. Das kostet Zeit – und Nerven. „Als unsere Ankleiderinnen mit den Kostümen endlich loslegen konnten, wollten die vietnamesischen Kolleginnen nicht einsehen, warum die Schauspieler „so hässliche Kleider“ bekommen sollen. Noch mehr Zeit, noch mehr Nerven. Denn die Deutschen müssen die Vietnamesen überzeugen: Die verfügen über das Geld vom Theater und müssen Preise aushandeln – und der steigt für ausländische Kunden auf einer nach oben offenen Skala. „Manchmal fällt es ganz schön schwer, zu befehlen. Aber ohne militärischen Ton scheint nicht viel zu laufen“, sagt Oser.
Gerade erst hat er erfahren, dass im Januar an einem der letzten Probentage das Opernhaus in Hanoi für eine Ordensverleihung an verdienstvolle Parteigenossen gebraucht würde. „Das wird von oben angeordnet. Und denen ist es egal, dass wir an dem Tag Proben angesetzt und auch schon bezahlt haben.“
Also ist Oser erst einmal zufrieden, dass ihm nur einen Tag lang die Hände gebunden sind. Und schwärmt lieber für die Energie der Vietnamesen, ihre „unglaubliche Power“. Für ihren „ganz eigenen Groove“. Eine Opernaufführung ist hier ein Ereignis, in Hanoi gibt es gerade mal drei Orchester. „Ich wusste genau, ich habe nur eine gute Trompete und zwei gute Hörner“, sagt Oser.
Die Künstler sind ihm dankbar. „Er hat uns die Rolle auf den Leib geschrieben“, sagt Darstellerin Nga. Mit Bleistift notiert sie die Übersetzung unter die Noten: „Tod auf dem Acker, der General, die Ratte, das Fleisch, der Kopf, totgebissen.“ Der Text klingt aus vietnamesischem Mund fast lieblich. Oser gibt auf dem Klavier den Takt vor. „General, mit rollendem R.“ Silvia Mödden korrigiert. „Erst einmal alles auf Nonono.“
Die Konzertsängerin betreut den Chor und überragt die Vietnamesinnen um ein bis zwei Köpfe. Sie hat Geduld – ein bisschen wie die Vietnamesen selbst, die zäh sind und pragmatisch. Beschwerden helfen oft nicht viel. Toben auch nicht.
Auch nicht, wenn längst besprochene Bauweisen und Informationen im Nirgendwo versickern. Oder es plötzlich heißt: Der Strom ist abgeschaltet – bis 17 Uhr. 17 Uhr ist Probenschlusszeit. „Dass pünktlich zu den Proben der Strom ausfällt, kann durchaus die vietnamesische Art sein zu kommunizieren“, sagt Oser. Oder dass der Chef seine Künstler plötzlich abzieht. Weil Vietnamesen ungern direkt „nein“ sagen, könnte das eine Übersetzung dafür sein, dass noch eine Rechnung offen ist.
Beim „Besuch der alten Dame“ wartete der Musikdirektor auf den Bühnentischler – vergebens. Für Vietnamesen bringt das Sägen von Holz an bestimmten Vormittagen im Monat Unglück.
Und noch ein Hindernis gab es beim Bühnenbild: Die Theaterverwaltung hatte die Überweisung für das Holz übersehen. Viel Zeit zum Aufbauen war auch nicht. Denn am nächsten Tag wurden die Schreiner im Theater gebraucht, um neue Türen einzubauen.
Zwei Wochen vor der Premiere klemmt es noch an einigen Stellen. Pierre Oser ist auf einen letzten „Schub der Leistungssteigerung“ angewiesen – und optimistisch: „Wir kriegen das in den Griff. Das ist hier so üblich.“