: Unverkrampfte Leichtigkeit
KLEINE DAME UNTER GROSSEN NACKTEN Halbzeit der sehenswerten Retrospektive zum Werk von June Newton, der Fotografin Alice Springs, in der Berliner Helmut-Newton-Stiftung
VON RALF HANSELLE
Einst war sie die Frau im Schatten; inzwischen lernt man die schwarzweiße Witwe kennen. June Newton, über fünfzig Jahre lang die Frau an der Seite des großen Bilderfinders Helmut Newton, präsentiert in Berlin erstmals eine Retrospektive ihrer eigenen fotografischen Arbeiten. Mit gut 250 Aufnahmen aus den Bereichen Mode, Akt, Werbung und Porträt beweist die quirlige 87-Jährige noch einmal aller Welt, dass sie zeitlebens mehr war, als nur „Mrs. Newton“; mehr, als die etwas exzentrische Lebensbegleiterin eines Ausnahmetalents; und mehr auch, als die kleine Dame, die neben all den großen Nackten auf den Bildern ihres Mannes zu bestehen hatte.
Die gebürtige Australierin lebte darüber hinaus ein zweites Leben. Ein Leben, in dem sie Alice Springs war – eine Lichtbildnerin mit eigener Sprache, eigenem Anspruch und eigenen fotografischen Bildideen. In diese Rolle schlüpfte June Newton vor genau vierzig Jahren hinein. Damals nahm sie ihre ersten eigenen Fotos für eine Imagekampagne des französischen Zigarettenhersteller Gitanes auf. Eigentlich hätten auch dies Helmuts Fotos werden sollen. Eine Agentur hatte den damals bereits hoch dotierten Fashion-Fotografen gebucht, damit er am Pariser Place Vendôme eine Bildstrecke mit rauchendem Model inszenieren konnte. Doch der Starfotograf war krank geworden. Und statt abzusagen, hatte er kurz entschlossen sie geschickt. Er hatte June noch Kamera und Belichtungsmesser erklärt und sich dann von ihr vertreten lassen. Als ihre jetzt auch in Berlin zu sehenden Zigarettenbilder einige Zeit später unter dem Namen Helmut Newton veröffentlicht wurden, hatte sie gewusst, dass ihr Leben eine entscheidende Wende genommen hatte: Aus June, der Frau des Fotografen, war über Nacht June die Fotografin geworden.
In diesem Moment aber muss ihr auch klar geworden sein, dass es auf der Welt nur einen „echten Newton“ geben konnte. Das außergewöhnliche ikonografische Ausdrucksvermögen ihres Mannes – das beweist nicht zuletzt diese umfangreiche Ausstellung in der Helmut-Newton-Stiftung – erlangte man nicht durch einen kleinen Springerjob. Für ihre Abstecher in die Fotografie legte sich June daher ein klangvolles Pseudonym zu: Alice Springs – ein Name, den sie sich von einer kleinen Stadt irgendwo in den australischen Outbacks ausgeliehen hatte.
Unter diesem Label gelangen der Autodidaktin in den Folgejahren größere Modestrecken sowie einige bemerkenswerte Werbebilder. In den 70ern fotografierte sie für Elle und für Marie Claire sowie für Egoïste und Jean-Louis David. Auch kleine Making-ofs zu den Mode-Shootings ihres Mannes waren in einschlägigen Magazinen zu sehen. Und 1974 gelang es ihr sogar erstmals, ein Foto auf dem Cover der französische Elle zu platzieren. Zugegeben: Die allermeisten dieser Modebilder reichten nicht an die voyeuristische und zuweilen offen pornografische Ästhetik der zu dieser Zeit angesagten Fashion-Fotografie heran – an die Bildwelten eines Guy Bourdin, Jeanloup Sieff oder eben eines Helmut Newton –, aber sie überzeugen dennoch durch offenen Eros und unverkrampfte Leichtigkeit. Selbst Ehemann Helmut blieb davon nicht unbeeindruckt – auch wenn er seiner Frau später ein eher verhaltenes Zeugnis ausstellen sollte: „Als Fotografin“, so vertraute der Meister seiner 2002 erschienenen Autobiografie an, „hatte sie nie dieselbe Energie und Zielstrebigkeit wie als Schauspielerin.“
Vermutlich hatte er recht: Im Herzen blieb June Newton eine Bühnenkünstlerin. Doch das musste nicht per se als Manko gelten. Im Gegenteil: Ihr wahres Talent entwickelte Alice Springs dort, wo es um Rollen und Maskeraden ging: Ab Mitte der 70er avancierte sie zu einer gefragten Fotografin für Porträts und Charakterbilder. Im Auftrag namhafter Magazine – oft aber auch nur für den Hausgebrauch – fotografierte sie Schauspieler und Modemacher, inszenierte Literaten und Filmemacher, formte Images für Maler und für Musiker. Diese schwarzweißen Hüftbilder und Halbfiguren sind es, die in dieser Alice-Springs-Retrospektive überwiegen. Konserviert auf den Abzügen grobkörniger Kleinbildfilme blicken den Besucher dutzende Prominente an. Man sieht Punkoma Vivian Westwood im Outfit einer Gouvernante oder erspäht Modemacher Yves Saint Laurent als unnahbare Stilikone. Der Fotografin scheint es bei solchen Aufnahmen nicht nur um die Darstellung großer Gesten gegangen zu sein. Sie hat vielmehr ein Gespür für das Wechselspiel von gelebter Rolle und ureigener Persönlichkeit entwickelt. Wo auf ihren Fotos die öffentliche Person aufhört und wo der wahre Mensch beginnt, ist in den seltensten Fällen klar zu umreißen. Vielleicht liegt diese Verschwommenheit an der eigenen Identitätsspaltung; an der Geschichte einer Frau, die über vier Dekaden hinweg zwei Namen getragen hat – die June Newton hieß und die dennoch Alice Springs war.
■ Bis 15. Mai, Helmut-Newton-Stiftung, Berlin, Katalog (Taschen Verlag Köln) 29,99 Euro