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Archiv-Artikel

Kopfüber im Moshpit der Erinnerungen

Die Dokumentation „American Hardcore“ konzentriert sich auf die dreckigen Gegenbewegungen zu den sauberen Achtzigerjahren und schreibt damit die Geschichte des amerikanischen Punk um. Das grenzt zwar schon an Geschichtsrevisionismus, macht den Film aber zum erfreulich ruppigen Erlebnis

Während die Historisierung von Punk und seinen Folgen unermüdlich vorangetrieben wird, differenziert sich der Underground-Wust der Achtzigerjahre in immer kleinere, speziellere Subkulturen, Genealogien und Genres aus. Mit seiner Dokumentation „American Hardcore – Die Geschichte des American Punk Rock von 1980 bis 1986“ liefert Paul Rachman ein weiteres Mosaiksteinchen zum großen Bild musikalischer Gegenbewegungen: die Hardcore-Szenen in den Ballungszentren der amerikanischen Ost- und Westküste, plus der versprengten Enklaven dazwischen.

Der Hardcore Punk von Bands wie Black Flag, Circle Jerks und Million Dead Cops entstand nahezu parallel zum Punk in England, hatte die Kommerzialisierung durch die Sex Pistols aber schon mitverarbeitet. Die Abgrenzung der Hardcore-Kids von der Gesellschaft vollzog sich nicht mehr ästhetisch, mit gepiercten Lederjacken, Iros und kaputtem Rock-’n’-Roll-Gehabe, sondern rein musikalisch. Statt „No Future“-Nihilismus oder schicken Kunstmarxismus gaben die Do-it-Yourself-Labels SST, Alternative Tentacles und Dischord ein radikal calvinistisches Arbeitsethos vor: keine Drogen, keinen Spaß und sechs Stunden Schlaf. Nie wieder war Rock, sowohl körperlich als auch geistig, so kerngesund wie Anfang der Achtziger, als Straight-Edge-Bands wie Minor Threat und SS Decontrol eine kompromisslose „No drugs, no alcohol“-Ideologie verkörperten.

Nicht von ungefähr werden in „American Hardcore“ die Bad Brains, eine Gruppe von Rastas aus Washington, D. C., die Babylon mit den Botschaften Jahs und ihrem brachialen, ultraschnellen Geprügel zum Einsturz brachten, von so ziemlich jedem Interviewten zu den Gralshütern des Hardcore Punk erkoren. Im Film erzählt Ian McKaye (Minor Threat), der wohl integerste Punk, der jemals auf Erden wandelte, wie Bad-Brains-Sänger HR ihm das Buch „Think and Grow Rich“ in die Hand drückte und so sein Leben veränderte.

„American Hardcore“ liefert ein korrigiertes Bild vom amerikanischen Punk, das beinahe an Geschichtsrevisionismus grenzt. Das New Yorker CBGB’s und Richard Hell kommen überhaupt nicht vor, die Ramones und die Dead Kennedys nur am Rande. Rachman interessiert sich für eine ganz bestimmte Spezies Hardcore, eine DIY-Politmentalität ohne Kunstkropf.

Ronald Reagan ist, wie Margaret Thatcher in Jon Savages Punkbiografie „England’s Dreaming“, in „American Hardcore“ omnipräsent; sein Konterfei zierte in der ersten Hälfte der Achtziger jeden zweiten Konzertflyer. Reagans Vereidigungen in den Jahren 1981 und 1985 dienen Rachman als logische Eckpfeiler für die Blütezeit des Hardcore Punk. Danach war nichts mehr wie vorher. Mit Reagans Wiederwahl entlud sich die brodelnde Frustration in körperliche Gewalt, vor allem auf Konzerten: beim Stagediven und im Moshpit. 1986 lösten sich Black Flag auf, Minor Threat hatten schon 1983 die Segel gestrichen. In der zweiten Hardcore-Welle dominierte dann der muskulöse Straßenkämpfersound von Bands wie Agnostic Front und den Cro-Mag, der dann auch dem Metal-Cross-over den Weg ebnete.

Für Rachman und seine Zeitzeugen (es müssen wohl an die hundert sein: tätowiert, gepierct, verfettet, mit Dreadlocks, kahl rasiert, in Badelatschen – die Semiprominenz der besten sechs Jahre amerikanischer Rockmusik) war Hardcore tatsächlich ein politisches Movement. Ein genuine Form von Radikalismus, wie „Articles of Faith“-Sänger Vic Bondi am Ende sagt. Rachman tut gut daran, diese goldenen Jahre nicht thematisch zu ordnen, sondern sich kopfüber in den Moshpit der Erinnerungen zu stürzen. Man fühlt sich nach dem Film selbst etwas gerockt, von der vielen guten Musik, den wahnsinnigen (und höllisch raren) Konzertmitschnitten, den kurzen, prägnanten Interviews, die niemals länger als dreißig Sekunden dauern. Der ganze Film hat den Rhythmus eines Hardcore-Stücks. Ruppig, schnell, keine Soli. ANDREAS BUSCHE

„American Hardcore – The History of American Punk Rock“. Regie: Paul Rachman, Dokumentarfilm, USA 2006, 100 Min.